Ruf der Toten
durch, bemüht, seiner hageren Gestalt einen Hauch von Autorität zu verleihen.
»Nein, ich habe…« Philip tadelte sich. »Ich meine, natürlich habe ich sie, ja.«
»Was denn nun?«
Dehnen musterte ihn streng. Aus seinem Büro kroch die Hitze über den Flur. Philip wich dem Blick nicht aus. Stolz und jede Silbe einzeln betonend sagte er: »Ich habe noch etwas Besseres!«
Dehnen legte den Kopf schief. Offenbar war er unsicher, ob er ihm glauben sollte. Seine Neugier allerdings war geweckt. »Hast du?«
»Ich gehe zu Fankow«, versetzte Philip schnippisch.
»Warte.« Der Fotograf griff nach seinem Arm. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Philip entwand sich ihm mit einem geschickten Bückling und stürmte den Gang entlang. Das fehlte ihm noch, Dehnen in seinen Coup einzuweihen. Garantiert würde der nichts unversucht lassen, um eine Scheibe vom Erfolg für sich abzuschneiden. Nichts da. Das ist mein Foto. Das ist meine Story. Philip wollte mit dem Chef reden, jetzt sofort, ohne Umwege und ohne den hinterfotzigen Fotografen.
Er klopfte nicht an, als er in das Büro platzte. »Hey, Chef, ich hab’s!«
Fankow warf die Stirn in Falten. »Langsam, Junge, langsam.« Er schien sich seit ihrem Aufeinandertreffen am Morgen nicht einen Deut bewegt zu haben. Noch immer hockte er hinter dem massiven Schreibtisch und baggerte sich durch Agenturmeldungen und Pressemitteilungen.
Schon seltsam, dass ein Bildredakteur sich mit derart viel Papierkram zu beschäftigen hatte.
»Ich habe…« Philip stockte, im Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Erst jetzt bemerkte er den älteren Herrn mit dem akkurat gebügelten Zweireiher und den blitzblank geputzten Schuhen. Er lehnte sich auf einem der Stühle vor Fankows Schreibtisch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Fankow presste die Lippen aufeinander, gab sich aber gelassen. »Herr Bertram, darf ich Ihnen vorstellen? Philip Hader, unser Fotovolontär.«
Philip reichte dem Zweireiher die Hand. Der Name Bertram kam ihm bekannt vor, wenn er auch nicht wusste, woher. Und um die Verwirrung noch zu steigern, brummte dieser Bertram ein tiefes »Ah« aus seinem Vollbart hervor und fügte hinzu: »Wir sprachen gerade von Ihnen.«
Fankow löste das Rätsel: »Philip, das ist Herr Bertram, der Geschäftsführer vom Kurier.«
Philip schoss das Blut in den Kopf. »Natürlich, Herr Bertram, ich habe Sie gleich erkannt«, haspelte er. Nicht auszudenken, was die beiden über ihn bequatscht hatten. »Tut mir Leid, wenn ich gestört habe, ich wusste nicht, dass Sie…« Rückwärts bewegte er sich Richtung Tür. »Ich komme später wieder.«
Bertram lächelte milde. »Nur zu, junger Mann. Lassen Sie sich von mir nicht stören. Heraus mit der Sprache, was haben Sie auf dem Herzen? Ich glaube nicht, dass es jugendlicher Leichtsinn war, der sie ins Zimmer stürmen ließ.« Ihm blieb nicht verborgen, dass Fankow hüstelte, doch er ignorierte den unausgesprochenen Einwand. »Es scheint wichtig zu sein, wenn Sie derartige Euphorie an den Tag legen, oder etwa nicht?«
»Schon.«
Mit einer saloppen Handbewegung forderte er Philip zum Erzählen auf. Er schaute vom Geschäftsführer zu seinem Chef und wieder zurück zu Bertram. Warum eigentlich nicht? Besser konnte er seine Story nicht an den Mann bringen. Trotzdem zögerte er. Vor einer Minute war alles noch so einfach. Sofort und ohne Umwege. Weil ihm auf Anhieb nichts Besseres einfiel, wiederholte er: »Ich hab’s.«
Fankow hantierte ungeduldig mit einem Kugelschreiber. »Was?«
»Das Foto!«
»Von der Krüppeltanne?« Es klang wie: Hast du sie noch alle?
Nur nicht beirren lassen, nicht so nah vor dem Ziel. »Das Foto schlechthin«, antwortete er so ruhig er konnte.
»Was soll das heißen?«
»Das Foto meines Lebens!«
Bertram horchte aufmerksam. Fankow rümpfte die Nase. »Von einem Weihnachtsbaum?«
»Ich werde es Ihnen beweisen. Warten Sie!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob…«
»Sie sollten… ich meine… Lassen Sie sich überraschen.« Seine Stimme überschlug sich. Sein Verstand mahnte zur Besonnenheit. Seine Lippen sagten tollkühn: »Und sagen Sie den Kollegen vom Titel, Sie sollen eine Schlagzeile freischlagen.«
»Langsam, Junge, langsam. Willst du mir nicht erst einmal erklären, was los ist?«
Verzweiflung überkam ihn. Welcher Teufel hatte ihn da gerade geritten? Eine Schlagzeile auf dem Titel. Wie konnte er, der Volontär, bloß so vermessen sein? Noch dazu in Anwesenheit des Geschäftsführers?
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