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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Narren, schnappte sich die Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug und trat ins Freie. Das dunstige Orange, das die Stadt wie eine Glocke an den Himmel projizierte, trug einen flirrenden Glanz, eisige Kälte, die die Berufspendler am Morgen bestimmt böse erwischen würde. Seine nackten Füße berührten die Fliesen, und der Frost krallte sich tief in seine Haut. Er hielt die Luft an. Scheiße, ist das kalt.
    Er stieß den Atem aus, und vor seinen Lippen tanzte eine Dunstwolke. Während er sich eine Zigarette ansteckte, warf er einen Blick über die Brüstung auf die Straße. Alle paar Meter ließen konzentrische Kreise die überfrierenden Pflastersteine glitzern. Die Laternen schienen im Kampf gegen die Kälte unterlegen, ihr Licht verlor sich zum Landwehrkanal hin. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Rosa Luxemburg tot aus dem Kanal gefischt worden, heute traf sich im Sommer dort das Kreuzberger Szenepublikum, Künstler und all jene, die sich dafür hielten. Im Winter waren die glatten steilen Wände des Kanals auch bei Selbstmördern beliebt. Einmal drin, war es fast unmöglich, wieder herauszukommen.
    Philip schauderte. Von hier oben glich der Kanal einem langen schwarzen Grab, an dessen Rand sich die Bäume und Sträucher kahl unterm Frost krümmten.
    Du redest nicht gerne über den Tod?, hatte Chris ihn gefragt. Nein, das tat er tatsächlich nicht. Aber ihm war auch sonst niemand bekannt, der gerne über das Sterben sprach. Anders jedoch als andere Menschen, die den Tod erfolgreich aus ihrem Leben verdrängten, hatte er schon in jungen Jahren Bekanntschaft mit ihm schließen müssen. Aber war das ein Grund, sich sein ganzes Leben zu versauen?
    Die eisig klare Luft rieb wie Schmirgelpapier über seinen Schädel und reinigte den Verstand; zumindest schien es ihm so. Er drückte die Zigarette auf der Balkoneinfriedung aus und schnippte sie auf die Straße. Dabei entdeckte er eine menschliche Gestalt, die sich unten in eines der Hölzer drückte. Ihre Haltung war unverkennbar: Wer immer das da unten sein mochte, er schaute zu ihm herauf. Das konnte Zufall sein, weil Philip ihn durch die Flamme seines Feuerzeugs aufmerksam gemacht hatte. Oder es war Absicht. Philips Atem stockte.
    Es war ein jäher, aber leichter Schock, nicht mehr als ein geistiger Schauder, eine seelische Aufwallung. Blinzelnd sah Philip in die Dunkelheit, aber die Gestalt war schon wieder verschwunden. Hatte er sich das Ganze nur eingebildet, wieder einmal? Chris hatte Recht. Er war drauf und dran, sein Leben zu versauen. Die Drogen zerstörten seinen Verstand, er verlor die Kontrolle. Kein gutes Zeichen. Wo sollte es enden? In der Gosse? Sein Leben konnte nicht weitergehen wie bisher.
    Die Kälte zwirbelte auf seinem Nasenrücken und er nieste. Gänsehaut überzog seinen Körper. Zeit, ins Warme zurückzukehren. Vorher sah er noch einmal hinab zum Kanal. Erleichtert stellte er fest, dass da wirklich niemand war. Und wenn schon, es war nicht verboten, bei diesem Scheißwetter am Ufer des Landwehrkanals entlangzuspazieren. Und wer dabei ins Wasser fiel – selber Schuld.
    Philip schob sich unter die Bettdecke. Gedankenverloren streichelte er den nackten warmen Körper seiner Freundin. Sie nuschelte verträumt. »Du bist so kalt. Alles in Ordnung, Philip?«
    »Ja«, sagte er und empfand es auch so. Alles würde anders werden. Mit diesem Gedanken schlief er wieder ein.

London
     
     
     
    Sie erwachte mit einer Angst, die ihr den Atem raubte. Sie war ein kleines Kind, unbedarft und schutzlos, und sie sehnte sich nach der Sicherheit ihrer Mutter, nach Nähe und Wärme.
    Mama, wo bist du?
    Sie öffnete die Augen und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Sie lag in ihrem Kinderbett, ein matt leuchtendes Mobile schaukelte von der Decke, dazu erschaffen, Kindern wie ihr die Angst vor dem Einschlafen zu nehmen. Sie streckte sich, und jemand – etwas? – lauerte in den Schatten am Rande ihres Gesichtsfelds.
    Was?
    Angst! ANGST!
    Ein entsetzlich lautes Geräusch malträtierte ihre Ohren. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie nicht in einem Kinderbett lag, sondern in einer Gasse und es das Tosen der U-Bahn war, die unter ihr rauschte. Sie lag auf einem Entlüftungsschacht, dem nicht nur der Lärm, sondern auch die aufgeheizte Luft aus dem Untergrund entströmte. Obwohl Winter war, rann ihr Schweiß den Rücken hinunter.
    Vorne, wo die schmale Gasse in eine größere Hauptstraße mündete, fiel

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