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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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konnte. Dementsprechend drückte ihr Gesicht Würde und Stolz aus, vielleicht sogar eine Spur von Überheblichkeit. Ihm wurde bewusst, wie lange es her war, dass er zuletzt einen Blick auf das Foto geworfen hatte.
    Er zog am Joint. Das Pot begann bereits wieder, seinen Schädel zu umwölken, und legte einen Nebel über die Dinge, die seine Aufmerksamkeit verlangten. Diese Frau auf dem Foto, ihr Gesicht, es erschien ihm plötzlich seltsam vertraut. Jetzt ärgerte er sich, den zweiten Joint gedreht zu haben. Er war erschöpft von den Ereignissen des Tages, zu wenig Schlaf, zu viel Dope. Es machte ihn müde, die Welt zerfaserte, keine Chance, sich noch auf einen bestimmten Punkt konzentrieren zu können. Vielleicht war das auch gar nicht wichtig. Vielleicht war die Antwort ganz einfach: Er hatte dieses Foto in seiner Kindheit so oft betrachtet. Natürlich, das musste es sein. Deswegen kam die Frau ihm so bekannt vor. Aber jetzt war er müde. Piss die Wand an!
    Chris nahm ihm die Tüte aus der Hand. »Was hältst du davon, wenn nur wir beide in diesem Jahr Heiligabend feiern?«
    Philip antwortete nicht. Er schlief bereits.

London
     
     
     
    Paul stand vor der Tür zu Zimmer 313, hinter der Beatrice lag, seine Freundin, die in vier Monaten seine Frau hatte werden sollen, und auf einmal war er sich gar nicht mehr so sicher, ob es die richtige Entscheidung war, ihr ein letztes Mal gegenüberzutreten. Das machte ihren Tod endgültig, und er wusste nicht, ob er schon bereit dazu war, Abschied zu nehmen.
    Bart, der neben ihm stand, schien seine Zweifel zu spüren. »Hast du es dir gut überlegt?«
    Paul rief sich Beas bleiches Antlitz mit den Schläuchen und Instrumenten, der ganzen High-Tech-Medizin um sie herum, vor Augen. Nein, er wollte ein Bild in Erinnerung behalten, auf dem sie friedlich schlief. Vielleicht sogar ein bisschen glücklich darüber, dass sie nicht allzu lange hatte leiden müssen. Damit würde er leben können. Aber dazu war hier und jetzt die einzige Gelegenheit. Später würde sie im Grab liegen, ihre Schönheit langsam verfallen – und bei dem Gedanken daran hätte er kein anderes Bild im Kopf als den Schrecken auf der Intensivstation.
    »Ja«, sagte er. »Das habe ich. Ich will sie noch einmal sehen.«
    »Dann warten Sie bitte einen Augenblick«, meinte Schwester Linda. »Ich möchte mich vergewissern, dass…« Sie hüstelte. Was immer sie sagen wollte, sie sagte es nicht und ging in das Zimmer, während ihre Schuhsohlen auf dem Linoleum quietschten.
    Kurz darauf trat sie zurück auf den Korridor, zog die Tür mit Nachdruck ins Schloss, und Paul bemerkte auf Anhieb die Verwirrung, die in ihr Gesicht eingemeißelt war. Wenn er geglaubt hatte, Bea sei kurz vor ihrem Ableben bleich gewesen, dann sah er sich jetzt getäuscht. Die Krankenschwester war leichenblass. Etwas in dem Raum musste ihr einen Heidenschrecken eingejagt haben. Paul mochte nicht glauben, dass es Beas sterbliche Überreste waren, eine Pflegerin auf der Intensivstation war den Anblick des Todes gewohnt.
    Auch Bart entging die Veränderung an Schwester Linda nicht. Er trat einen Schritt nach vorne. »Können wir jetzt hinein?«
    Die kleine Pflegerin griff nach seinem Arm und verstellte ihm den Weg, ausgerechnet ihm, dem muskulösen Bär, für den selbst ihre rundliche Figur nur ein Fliegengewicht war.
    »Nein.« Sie sagte es mit derartiger Bestimmtheit, dass Bart unwillkürlich den Schritt zurücksetzte, den er eben nach vorn getreten war.
    »Was soll das heißen?«, fragte er verwundert.
    »Nein«, wiederholte sie und ihre Stimme bebte. »Ich halte es für keine gute Idee, wenn sie jetzt in das Zimmer da gehen.«
    Paul verstand die Welt nicht mehr. »Wieso nicht? Ich möchte zu meiner Verlobten. Das können Sie mir nicht verwehren. Doktor Martensen hat es erlaubt!« Was immer die Schwester noch ins Feld führen würde, es interessierte ihn nicht. Das Verlangen, seine Freundin zu sehen, war so übermächtig, dass er der Krankenschwester einen Schubs verpasste. Er griff nach der Türklinke.
    »Nicht!«, rief Linda, doch Bart reagierte. Mit seinen muskulösen Armen packte er sie und hob sie wie einen übergroßen Teddy beiseite.
    Paul öffnete die Tür zu Zimmer 313. Mit ein paar Sekunden Verzögerung, als habe eine Art geistige Abrissbirne erst in die entgegengesetzte Richtung ausholen müssen, traf es ihn mit voller Wucht.
    Die Instrumente und Apparate bildeten einen Halbkreis um das Bett. Sie waren abgeschaltet, warteten darauf, den

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