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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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legte sich über die Gasse. Nur von der Hauptstraße her war gelegentlich das Rauschen eines Autos zu hören, das vorsichtig über den eisigen Asphalt schlich.
    »Wird denen eine Lehre sein«, brummte eine heisere Stimme.
    »Danke«, sagte sie.
    Licht fiel auf sie. Nur mit Mühe konnte sie den Mann mit dem zersausten Haar, den spröden, rissigen Wangen und den schmutzstarrenden alten Kleidern erkennen, der ihr mit seiner Taschenlampe ins Gesicht strahlte. Geblendet hob sie die Hände.
    »Ist ja gut. Ist ja gut«, nuschelte der Mann und richtete die Funzel auf einige zerbeulte Kisten, die im gefrorenen Matsch aufgereiht standen. Die Kartons waren der Länge nach ineinander gesteckt; in einige war ein Loch hineingeschnitten worden, quadratisch und mit Streben wie ein Fenster. Dahinter entdeckte sie eine fleckige Matratze und begriff: Hier hatte sie eine Behausung vor sich. »Ist ja alles in Ordnung. Komm, Kindchen, beruhig dich. Der Albtraum ist vorbei.«
    Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Ihr Schrecken war real. Allerdings fehlte ihr die Erinnerung daran – und noch an viel mehr. »Wer bin ich?«, flüsterte sie.
    »Weiß, wer du bist.« Der Landstreicher kramte in einer Plastiktüte. »Hab das in deiner Hosentasche gefunden.« Klirrend warf er ihr ein Schlüsselbund entgegen. Es fiel knirschend auf die Eisschicht einer Pfütze, und sie griff schnell danach. Der Blick, mit dem der Penner sie ansah, und die Art, wie er sich über die Lippen leckte, ließ sie schaudern. Sicherlich tat sie ihm unrecht, aber der Schrecken von eben steckte noch in ihren Gliedern, und sie mochte gar nicht daran denken, was er mit ihr angestellt haben könnte, während sie bewusstlos gewesen war.
    Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Schlüsselbund. Aufmerksam, als hielte sie ein wertvolles Artefakt in den Händen, studierte sie das klimpernde Bündel. Ein Anhänger war daran befestigt und trug einen Schriftzug: Paul. Leise sprach sie den Namen aus, und eine aufmerksame Stimme in ihr wies sie darauf hin, dass das ein Name war, der ihr bekannt hätte sein müssen. »Paul«, wiederholte sie. Irgendetwas rührte sich zwischen ihren Schläfen, doch es wollte nicht zum Vorschein kommen. Als sei eine unsichtbare Mauer um sie errichtet, welche die Rückkehr ihres Gedächtnisses blockierte.
    Paul.
    Der Name klang vertraut und doch fremd. Sie griff sich in den Nacken, doch da waren keine Haare. Sie legte ihren geschorenen Kopf an einen der Kartons und schmeckte die Bitterkeit der Niederlage. Es würde keine süßen Träume mehr geben. »Das ist nicht mein Name«, sagte sie niedergeschlagen.
    »Ist klar«, entgegnete er. »Bist schließlich ein Mädchen, kein Junge.« Er gluckste zufrieden über die Erkenntnis. »Nenn dich trotzdem Paul.« Er kicherte. »Paula.«
    »Wo bin ich?«, fragte Paula. »Wer sind Sie? Was mache ich hier?«
    Der Landstreicher schnaubte, und eine feuchte Spur bahnte sich den Weg aus seiner Nase bis hin in seinen zotteligen Bart. »Hast deinen Kopf verloren, wa?«
    Irritiert sah sie ihn an. Er klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Kannst dich nicht mehr erinnern. Ist scheiße!«
    Sie nickte. Wieder bohrte sich etwas unangenehm in ihren Rücken. Sie strich suchend mit der Hand über die Haut, und als sie sie wieder hervorzog, hielt sie Tannennadeln zwischen den Fingern. Schleierhaft, wie die unter den Pulli gelangt waren, ausgerechnet hier, in dieser Gasse, in der weit und breit kein Grün zu erkennen war. Sie warf die Nadeln fort.
    »Bist in London, wo sonst. Frag nicht, welche Straße. Eine gleicht der anderen. Nur wenige sind warm.« Der Lichtstrahl traf das Lüftungsgitter. »Die hier ist es. Ist gut für Leute wie uns.« Er hustete, spuckte einen Batzen Schleim auf den Asphalt. Dem Geräusch seiner Bronchien nach zu urteilen, hauste er schon einige Jahre auf der Straße, und die strengen Winter hatten ihre Spuren hinterlassen. »Wer ich bin? Heiße Elonard, kannst mich aber auch Elmi nennen. Freunde dürfen das. Angenehm!« Er tippte sich mit zwei speckigen Fingern an die Stirn. »Und was du hier machst? Hab dich im Park aufgelesen. Drüben im Hampstead Heath. Ist bitterkalt dort um diese Jahreszeit, nix für ein Mädel wie dich. Ne Straße wie diese mit den Lüftungsschächten ist besser. Hab dich hergebracht.« Er wies auf einen Einkaufswagen, der mit Stoff und rätselhaften Utensilien bepackt war, die die Nacht vor ihren Blicken verbarg. »Hat mich noch nie im Strich gelassen, das gute

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