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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Würde er glücklich sein?
    Würde er mich in den Arm nehmen? Ich hatte so viele Fragen, die ich ihm stellen wollte, vor allem diese: Wieso hatte ich im Heim aufwachsen müssen, warum nicht bei ihm…« Er holte Luft, als trete er seinem Vater eben zum ersten Mal gegenüber. »Doch er ließ mich vom ersten Tag an wissen, warum er keinen Wert auf meine Gesellschaft legte.«
    Chris streichelte seine Hand. »Was war dein Vater für ein Mensch?«
    »Er war alt und verbittert. Und er…« Zorn flammte auf, den Philip längst begraben geglaubt hatte. »Er gab mir die Schuld am Tod meiner Mutter. Ich war dreizehn Jahre alt, und er sagte mir ins Gesicht, ich hätte meine Mutter auf dem Gewissen. Patsch! Das saß! Ich habe ihn danach noch ein paarmal besucht. Ich habe ihn gefragt, darum gebeten und gebettelt, dass er mir sagt, warum ich, ein Junge von anderthalb Jahren, verantwortlich für den Tod meiner Mutter sein sollte.« Philip sah seine Freundin an. »Ihr Tod war nicht meine Schuld. Das weiß ich. Es stand schwarz auf weiß im Polizeibericht. Ich habe ihn später gelesen. Ein Autofahrer… der Wagen geriet ins Schleudern, schleifte sie mit bis an einen Baum, wo er in Flammen aufging, und meine Mutter verbrannte. Ich soll dabei gewesen sein. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich kann mich nicht einmal an meine Mutter erinnern. Wer war sie? Was für ein Mensch war sie? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Sie hat mir gefehlt. Wenn ich früher andere Kinder mit ihren Müttern gesehen habe, ausgelassen auf dem Spielplatz, glücklich bei Burger King, egal, wo, dann wurde mir schwer ums Herz. Ich spürte, dass mir etwas fehlte, als sei da ein dumpfes Loch in mir und meinem Leben. Kannst du das verstehen?«
    Chris nickte voller Anteilnahme. Doch wer konnte nachempfinden, was er gefühlt hatte, damals, als er noch ein Kind gewesen war?
    »Aber das interessierte meinen Vater nicht. Es war ihm egal, wie es mir im Heim erging, dass ich einsam war, dass er mir fehlte, dass er mir – indem er sich von mir zurückzog – meine Familie raubte. Den letzten Rest, den ich noch besaß. Er steckte mich ins Heim und überließ mich mir selbst. So einfach war das. So einfach und beschissen. Piss die Wand an! Er sei mir keine Erklärung schuldig, hat er gesagt. Deshalb gab ich irgendwann auf und ließ es bleiben. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. So lange habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen. Ich will ihn auch nicht mehr sehen. Ich hasse ihn. So wie er mich hasst.«
    »Was ist mit deinen Großeltern?«
    »Es gab eine Zeit, da hätte ich gern mit den Eltern meiner Mutter gesprochen. Ich hatte die Hoffnung, von ihnen mehr über sie zu erfahren. Vielleicht, weil ich auf diesem Wege einen Teil von ihr in meiner Erinnerung gerettet hätte. Aber mein Vater meinte, wahrscheinlich sei das Dreckspack längst gestorben. Wortwörtlich hat er das gesagt. Ich weiß nicht, wer sie sind. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Inzwischen ist es mir auch egal.«
    Chris schmiegte sich an ihn. Ihre Haut war weich und warm und das Versprechen von Geborgenheit. »Es tut mir Leid«, sagte sie.
    »Das braucht es nicht. Ich habe gelernt, damit zu leben, dass ich keine Familie habe. Manchmal tut es noch weh. Aber ich kann damit umgehen.« Er lachte auf, aber es war kein echtes Lachen. »Manche Kinder haben eine Familie. Ich habe ein Foto.«
    »Ein Foto?«
    »Ich fand das Bild eines Tages zwischen den wenigen Habseligkeiten, die mir gehörten, und die man mir im Heim aushändigte, als ich alt genug dafür war. Ich glaube, dass meine Großeltern darauf zu sehen sind.«
    »Zeig es mir.«
    »Es ist nur ein altes, vergilbtes Bild.«
    »Das sagst gerade du, der du dich Fotograf nennst.«
    »Volontär!«
    Sie kitzelte ihn. Er entzog sich ihr. »Zeig mir doch bitte das Foto.«
    »Warum?«
    »Es interessiert mich.«
    Dagegen gab es schwerlich etwas einzuwenden. Er kramte das Foto aus einer Schublade hervor. Während sie es im Kerzenschein betrachtete, drehte er einen neuen Joint. Nach einer Weile meinte sie: »Eine schöne Frau, deine Oma.«
    »Wenn sie es wirklich ist.«
    »Bestimmt ist sie es.« Sie gab ihm das Foto zurück. Es stimmte. Die Frau auf dem Bild war zwar klein, reichte ihrem Mann gerade mal bis zur Schulter, aber sie war eine außerordentlich attraktive Frau. Sie trug einen langen schwarzen Mantel und einen Hut, der große Ähnlichkeit mit einem Käfig hatte, damals aber wohl modisch war und ein Zeichen, dass man sich einen gewissen Luxus leisten

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