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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Verstand war nüchtern, vieles stellte sich ihm klarer dar, als er es am Abend zuvor empfunden hatte. Er nahm einen Bissen, kaute und sagte: »Ich werde mir einen neuen Job suchen. Das werde ich machen. Ich hab gestern Scheiße gebaut. Nicht nur gestern Mittag. Auch gestern Morgen, im Tresor. Und die Woche davor und den Monat davor. Im Grunde bin ich selber schuld, dass sie mich beim Kurier nicht mehr haben wollen. Das ist zwar hart, aber…« Er hob die Schultern. »Es ist meine eigene Schuld. Es konnte so nicht weitergehen, du hattest Recht.« Er lächelte. Sie musterte ihn aufmerksam. »Wie so oft.«
    Über ihr Gesicht huschte ein freudiges Strahlen, sie drückte ihn und sagte: »Ich hab dich lieb, mein Süßer.«
    Er genoss den Augenblick der Nähe und die Kraft, die sie ihm mit dieser Geste schenkte. Sie löste sich von ihm und ging zur Wohnungstür. »Lass es dir noch schmecken.«
    Er griff zur Kaffeetasse und fand eine Euromünze, die daneben lag.
    »Den Euro muss ich aber nicht essen, oder?«
    »Nein.« Chris stand bereits im Türrahmen. »Ich war vorhin auf dem Balkon und hab eine Zigarette geraucht. Der Euro lag auf den Fliesen, dort vor der Tür. Die Glasscheibe hat übrigens einen Sprung…«
    Beinahe verschluckte er sich am Kaffee. Ganz langsam sah er zur Seite, als könnte er sich dem Anblick der Balkontür nur mit allergrößter Vorsicht aussetzen. Auf halber Höhe zog sich ein haarfeiner Riss durch die Glasscheibe. Als wäre etwas dagegen geprallt. Eine Münze zum Beispiel.
    Chris plauderte weiter. »… schon witzig, der Euro ist aus Italien…« Ihre Stimme drang wie aus weiter Entfernung an sein Ohr. »… Uuomo von Leonardo da Vinci, du weißt schon, einer meiner Lieblings- « Ihr Redefluss versiegte. »Philip, ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du dich an der Münze verschluckt?«
    »Ja, ja«, gab Philip geistesabwesend zurück.
    »Was, du hast dich verschluckt?!«
    »Nein, nein.« Er rief sich zur Beherrschung und setzte ein Lächeln auf. »Alles in bester Ordnung.« Vorsichtshalber fügte er hinzu: »Piss die Wand an!«
    Sie lachte. »Das klingt ganz nach meinem Süßen. Ich muss dann, tschau!«
    Die Tür fiel ins Schloss und Philip war alleine. Er stellte die Tasse ab und nahm das Geldstück. Es stammte aus Italien, Chris hatte Recht. Das Bild auf der Rückseite war ihm von Postern, T-Shirts und Mousepads bekannt. Es stellte die Gestalt eines nackten Mannes dar, der mit weit von sich gestreckten Gliedmaßen im silberfarbenen Innenkreis der Münze eingezeichnet war. Uuomo von Leonardo da Vinci. Philip hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Aber wenn Chris das sagte, gab es keinen Grund, daran zu zweifeln, schließlich studierte sie Bildende Kunst.
    Allerdings bezweifelte er, dass dieses Wissen von Belang war. Einzig die Tatsache, dass das Geldstück auf seinem Balkon lag, war entscheidend.
    Jemand musste es gegen die Fensterscheibe geworfen haben. Weshalb? Um ihn zu wecken? Warum? Erneut drängten sich Fragen auf. Fragen, die er abgeschlossen geglaubt hatte. Doch er wusste, er würde keine Antworten finden, nicht jetzt, nicht hier. Deshalb steckte er den Euro ein, verschlang ein Brötchen und entschied, etwas Sinnvolles zu tun: zum Kurier fahren und seine Ausrüstung abholen beispielsweise.
     
     
    Rüdiger Dehnen war ihm überraschend wohlgesinnt und half, Philips Kamera, die Ersatzobjektive, ein Blitzlicht sowie zwei Handleuchten und jede Menge Filmstreifen in Kartons zu packen. Dabei unterhielten sie sich über belangloses Zeug, über den miserablen Tabellenplatz von Hertha BSC und über die Pleite der UFA-Kinokette. Ausgerechnet an seinem letzten Tag beim Kurier konnten sie ungezwungen und ohne offene Feindseligkeit miteinander reden.
    Es kamen schließlich drei Kisten zusammen, mehr als Philip mit einem Mal in der U-Bahn transportieren konnte. Wohl oder übel würde er noch ein weiteres Mal in die Redaktion zurückkehren müssen. Dehnen verabschiedete sich: »Es ist schade, dass du gehst.«
    »Du hast Recht«, antwortete Philip. »Nirgendwo sonst bekommt man kostenlos einen Saunabesuch geboten.«
    Dehnen lachte auf. »Ja, ja, ich weiß, du bist nicht der Erste, der das sagt… Nein, im Ernst: Es ist schade, dass du gehen musst.«
    »Hey, nimm’s mir nicht übel. Aber das klingt seltsam aus deinem Mund. Und ziemlich ungewohnt.«
    Dehnen zupfte an seinem Hemd, das wie immer zwei Nummern zu groß war. »Ich gebe zu, wir waren nicht gerade ein Herz und eine Seele.«
    »Kann man

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