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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Augen flimmernd, den kleinen Körpern hinterher, die eine Parade hielten, deren Zweck sich ihr verschloss.
    Dann war die Karawane der Kinder an ihr vorbei. Den Abschluss bildete eine Frau. Sie war alt, unermesslich alt. Ihre Lippen waren bebende Striche in einer wüsten Landschaft: Tiefe Falten durchpflügten ihr Gesicht, dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augenlidern eingenistet. Sie blieb vor Paula stehen, und ihr Blick quoll aus den greisen Augen hervor, eindringlich und beklemmend.
    Ich kenne diese Frau, dachte Paula.
    Und die Frau nickte. »Komm zu mir«, sagte sie. »Lass mich dir helfen, und alles wird gut. Komm mit uns.«
    »Mama?«, stieß Paula zwischen ihren Fingern hervor. »Bist du es?«
    Eine Träne schälte sich unter den Lidern der Frau hervor. Sie reichte Paula die Hand, und endlich löste Paula ihre Finger von den Lippen, vergaß den üblen Gestank und trat einen Schritt nach vorne.
    Eine heisere, raue Stimme fragte: »Mit wem redest du?«
    Paula fuhr erschrocken herum. Sie hatte Elonard nicht kommen hören.
    »Mit…«, begann sie und wusste die Antwort nicht. Ihre Erinnerung setzte aus, schon wieder.
    Sie wandte sich der alten Frau zu, doch sie war verschwunden, und mit ihr die Prozession. Sie waren weg, einfach so, ohne dass noch etwas von ihnen zu sehen war. Oder zu hören. Stille. So sehr sie sich bemühte, das Einzige, was sie vernahm, war das Raunen des Winterwindes, der um die Blöcke pfiff – und ein Auto, das sich mit knatterndem Motor näherte.
    Hatte sie geträumt?
    »Mit niemandem«, sagte sie kraftlos und ließ die Arme hängen. Nachdenklich fügte sie hinzu: »Ich wüsste nur zu gerne, was mit mir passiert ist.«
    Elonard legte seine Hände auf ihre Schultern. »Ich bring dich morgen dorthin, wo ich dich gefunden hab.« Langsam führte er sie zurück in die Gasse, die der erwachende Tag mit seinem Licht noch verschonte. »Vielleicht hilft es dir.«
    Paula nickte. »Hoffentlich«, meinte sie, aber sie glaubte selbst nicht daran.

Dienstag
     
    Berlin
     
     
     
    Der unwiderstehliche Duft von Kaffee und frischen Brötchen weckte Philip. Er hörte Chris in der Kochnische mit Messer, Topf und Teller hantieren. Kurz darauf kam sie mit einem liebevoll gedeckten Tablett in das Zimmer und stellte es auf dem Tisch ab. Seine Freundin war ein Schatz.
    »Guten Morgen, mein Süßer.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Gut geschlafen?«
    Er rekelte sich unter der Bettdecke, fühlte sich ausgeschlafen und erholt. Die gestrigen Ereignisse erschienen ihm wie ein surrealer Film. Er glaubte sich an einen Traum erinnern zu können, den er in der letzten Nacht gehabt hatte, aber sicher war er sich nicht. Nicht einmal mehr, ob er in der Nacht tatsächlich aufgestanden und auf dem Balkon gewesen war, konnte er mit Bestimmtheit sagen. Alles verschwamm irgendwie zu einer trüben Suppe, die er am besten schnellstmöglich vergaß. »Ich fühle mich wie neugeboren.«
    »Schön! Ich hab dir ein kleines Frühstück bereitet.«
    »Das ist lieb von dir.« Er gab ihr einen neckischen Klaps auf den Po. Dabei stellte er fest, sie war bereits geduscht und angekleidet. Sie bemerkte seinen fragenden Blick und meinte: »Tut mir Leid, ich muss gleich zur Vorlesung an die Uni.«
    Er schob die Unterlippe vor und spielte den Beleidigten. Doch die schelmischen Falten in seinen Augenwinkeln verrieten ihn. Chris stürzte sich auf ihn. »Du elendiger Lügner! Tu nicht so, als wärst du traurig.«
    »Ich bin aber traurig!«
    »Bist du nicht.«
    »Bin ich wohl.« Sie wälzten sich auf der Couch und küssten sich. »Klar bin ich traurig. Was soll ich den ganzen Morgen ohne dich anfangen?«
    »Was willst du denn machen?«
    Seine Hand suchte einen Weg unter ihr Shirt. »Ich wüsste durchaus, wie ich die Zeit rumkriegen könnte.«
    »Hände weg!«, schimpfte sie und lachte. Er ließ nicht locker. Seine Finger fummelten am Verschluss ihres BHs. Geschickt entwand sie sich ihm. »Nein, Philip, nicht jetzt. Ich muss zur Uni. Ich hab nicht viel Zeit.«
    Achselzuckend widmete er sich dem Frühstückstablett. »Okay, wie du willst. Vernasche ich halt die Brötchen…« Vor ihm breiteten sich zwei goldbraun aufgebackene Brötchen, Wurstaufschnitt, Käse, ein gekochtes Ei, ein Töpfchen mit Marmelade, eine Tasse Kaffee und ein Glas Orangensaft aus. Chris hatte sich viel Mühe gegeben, und er schnalzte anerkennend mit der Zunge.
    »Was willst du heute unternehmen?«
    Während er eines der Brötchen zerteilte, überlegte er. Sein

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