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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Tasche und zwängte sich ohne einen Blick zurück an den betenden Menschen vorbei aus der Kapelle.

London
     
     
     
    Paula war müde und fühlte einen dumpfen, bohrenden Schmerz in ihrem Kopf. Als sie Elonard davon erzählte, reichte er ihr eine Aspirin, mit denen er – dank eines anderen guten Freundes – ausgestattet war.
    Er bereitete ihnen die Schlaffläche seiner schmalen Pappbehausung vor, und als Paula zu bedenken gab, dass es um diese Jahreszeit doch zu kalt für ein so karges Heim sei, lächelte er nur wissend. Er schob die Kartons über den Lüftungsschacht der U-Bahn, und als sie beide auf der Matratze lagen, eingewickelt in eine mit Brandlöchern und Flecken unbestimmbarer Herkunft übersäte Decke, war es tatsächlich überraschend warm.
    Paula konnte trotz ihrer Müdigkeit lange keine Ruhe finden. Als sie endlich einschlief, wurde sie von hässlichen Traumbildern heimgesucht, die sie immer wieder weckten. Einmal war ihr, als hörte sie gedämpfte Schritte, die um ihr Nachtquartier schlichen, aber wahrscheinlich war das nur ein Element ihrer Träume, das sich in die Wirklichkeit herüberzuretten versuchte.
    Es war nicht das Röhren der U-Bahn, das Paula schließlich doch vollends aufweckte. An das regelmäßige Rumpeln, das aus dem Schacht unter dem kleinen Kartonhaus dröhnte, hatte sie sich schnell gewöhnt. Die Stimmen allerdings, die in einem atonalen Rhythmus zwischen den Häuserwänden echoten, wollten sich beim besten Willen nicht in ihren Schlaf einordnen lassen. Es war ein helles Gurren, ein gleichförmiges Sirren, wie ein verführerischer Sirenengesang.
    Elonard lag neben ihr, eingewickelt in seine fleckige Decke. Er schlief tief und fest, als sei diese Schlafstätte das Beste, was ihm je im Leben widerfahren war. Doch seine Lunge strafte den Eindruck Lügen; sie rasselte, sobald er ausatmete, und zwar so laut, dass nicht einmal das eigentümliche Murren der Stimmen das Keuchen übertönen konnte.
    Paula fühlte sich matt; sie hatte das Gefühl, ihre Knochen seien ausgehöhlt und ohne Mark, und ihr Kopf eine große Trommel, auf der dumpf und unablässig gewirbelt wurde. Sie schlängelte sich vorsichtig aus der Behausung.
    Das Geräusch der Stimmen kam von vorne, dort, wo die Gasse auf die Hauptstraße traf. Sie wischte sich den Schlaf aus den Augen und lief dem Singsang entgegen.
    Der Tag begann zu grauen; im Osten lichtete sich bereits der Horizont. In einiger Entfernung bemerkte sie einen Punkt, der sich schnell vergrößerte. Schon kurz darauf konnte sie Menschen erkennen, die sich ihr in einer Prozession näherten. Weit und breit war kein Auto in Sicht – nur diese eigentümliche Parade, die ihr entgegenstrebte. Und die, wie sie jetzt bemerkte, eine Welle des Gestanks vor sich hertrieb, die ihr fast den Atem raubte. Das Wummern in ihrem Schädel schwoll zu einem brutalen Donnern an, das ihr mit jedem Schlag die Augäpfel aus den Höhlen zu pressen drohte. Sie hielt sich die Nase zu und versuchte, durch den Mund zu atmen. Wie Rauch drang die faulige Luft in sie ein, legte sich bitter auf ihre Zunge. Der Gestank von verdorbenen Speisen umhüllte sie, nistete sich in ihren Kleidern ein, heftete sich an ihre Haut. Sie fühlte einen nie gekannten Ekel in sich aufsteigen, der sie taumeln ließ.
    Was in aller Welt war das? Mit großen Augen stellte sie fest, dass der Aufmarsch aus Kindern bestand, die – der Witterung völlig unangemessen – nur dünne Leibchen am Körper trugen. Allein bei diesem Anblick fuhr Paula die Kälte tief unter die Haut. Doch noch mehr ließ sie schaudern, dass die Kinder, eines nach dem anderen, an ihr vorbeitrotteten, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Bleich, blindlings und eigentümlich willenlos folgten sie einem Pfad, der für Paula unsichtbar blieb. Ihren kleinen Mündern entsprang dabei das Summen, das sie geweckt hatte und sich jetzt, da sie es aus nächster Nähe hörte, als ein herzergreifendes Schluchzen entpuppte. Jämmerlich und doch so lieblich, weil in einem Takt, der tief in Paula etwas berührte.
    Am liebsten hätte sie die Kinder an sich gedrückt, jedes einzelne, und ihnen gesagt, dass es keinen Grund für ihre Verzweiflung gab; da war immer ein Ausweg, egal, wie hilflos man sich fühlte. Doch Paula blieb wie angewurzelt am Straßenrand, unfähig sich zu bewegen, weil der Gestank sie schier betäubte. Nur ein einziger Schritt, und sie würde der Länge nach auf den Asphalt kippen. So blickte sie, die Hand schützend vor Nase und Mund gehalten, die

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