Ruf der Toten
erste Mordserie der Weimarer Republik – aber wer wollte wissen, was vor fast hundert Jahren geschehen war? Mit dem Bericht Immer brutaler, immer mächtiger – Russen-Mafia in Berlin kam Philip der Jetztzeit näher – allerdings lag der geschilderte Mord an einer Prostituierten auf dem Kudamm trotzdem noch drei Jahre zurück. 2002 wurde in einer Nobeldisco ein Albaner erschossen. Mehr gab Google nicht her.
Philip versuchte es bei anderen Suchdiensten, Yahoo, Lycos, Altavista – ebenso vergeblich. Die Seiten, die die Maschinen aus dem Netz hervorstöberten, wiederholten sich, aktuell war nichts zu finden. Resigniert schloss er den Browser.
Steckner schien das erwartet zu haben. »Zu viel Müll und Schund«, sagte er. »Es geht nichts über ein handfestes Archiv aus Akten, Ordnern und Papier. Was man nicht braucht, entsorgt man. Den Rest sortiert man, und schon hat man alles, was man braucht, jederzeit schnell zur Hand. Aber versuch das mal mit dem Internet – pah!«
Philip sah sich bereits einem stundenlangen Plausch mit Steckner ausgesetzt. Allerdings wollte er ihn auch nicht rüde abfertigen, nachdem dieser ihm so bereitwillig geholfen hatte. Ermutigt davon, dass Philip ihn nicht unterbrach, fuhr der Archivar fort: »Da lobe ich mir die alten Zeiten. Als ich noch im Museum gearbeitet habe, war alles schlichter und trotzdem genauso effizient. Meinst du, da hat irgendjemand nach dem Internet verlangt?«
»Ach, Sie waren im Museum?«, gab sich Philip höflich. Langsam bereitete er seinen Abgang vor und bewegte sich unauffällig in Richtung Tür.
»Ja, im Bodemuseum, du weißt schon, das auf der Museumsinsel. Bis der Senat auf die irrwitzige Idee kam, den Berliner Haushalt durch Einsparungen im Kultursektor zu retten. Es ist immer das Gleiche: Keine Kohle, dann setzen sie bei Bildung und Wissenschaft zuerst den Rotstift an. Ich frage mich ernsthaft, was bloß aus unseren Kindern werden soll. Tja, die erste Quittung haben wir mit der Pisa-Studie schon bekommen. Geschieht ihnen recht, den Herren da oben. Wie auch immer, jedenfalls hieß es ›Auf Wiedersehen‹ für sechs der Mitarbeiter. Am schlimmsten traf es meine Abteilung, das Münzkabinett. Dort durften gleich zwei Angestellte ihren Hut nehmen. Einer davon war ich. Und finde mal einen neuen Job in meinem Alter. 54 Jahre! Zu alt. Das sagt dir jeder. Hatte mich eigentlich auch schon darauf eingestellt, bis zum Ende meiner Tage daheim zu sitzen… Zum Glück bin ich dann beim Kurier gelandet. Natürlich ist das kein Vergleich zur Museumsarbeit, aber besser als nichts, sage ich mir.«
»Sie haben im Museum gearbeitet? Im Münzkabinett?« Philip spitzte die Ohren. »Warten Sie!« Wenn er auch noch nicht genau wusste, was es bringen sollte, er zeigte dem Archivar den Euro. »Das ist eine italienische Münze, oder?«
Steckner nickte, erfreut darüber, sein Wissen endlich wieder einmal mit jemandem teilen zu können. »Ja, natürlich, das ist eine italienische Euromünze. Euromünzen haben freilich nicht zum Museumsinventar gehört. Wir hatten griechische und römische Münzen der Antike, europäische Münzen des Mittelalters und der Neuzeit sowie 30.000, ach nein, was rede ich, 35.000 arabisch-orientalische Münzen, eine wirkliche Seltenheit…« Er kratzte sich die Stirn. »Aber ich schweife ab. Wo war ich?«
»Die italienische Münze.«
»Richtig. Die italienische Münze.«
»Und hier…« Philip zeigte ihm die Rückseite. »Das ist L’uomo, oder?«
»Selbstverständlich, L’uomo.« Steckner nahm das Geldstück an sich. »Das ist…« Er zögerte. »Merkwürdig.«
Philip sah ihn fragend an.
»Sehen Sie, hier.« Steckner wies auf die Zahl, die rechts unter dem nackten Da-Vinci-Mann eingeprägt war. Aus der Entfernung konnte Philip sie nicht entziffern. »Was ist damit?«
»Merkwürdig«, wiederholte Steckner. »Woher haben Sie die Münze?«
»Ich habe Sie gefunden.«
»Seltsam… Sehen Sie, hier, da steht… 2018.«
»Ja und?«
Steckner schnaubte wie ein Gaul und sein Bart wirbelte auf. »Das ist unmöglich. Die Ziffern dort geben das Jahr an, in dem eine Münze hergestellt wurde. Das hieße, diese hier wäre im Jahr 2018 geprägt worden.« Er lachte auf. »Eine Fehlprägung, und niemand hat es gemerkt.« Er händigte Philip das Geldstück wieder aus. »Junger Mann, Sie halten eine Rarität in den Händen, eindeutig. Und ich bin absolut sicher, in ein paar Monaten ist dieser Euro mehr wert als nur 100 Cent. Bewahren Sie ihn gut auf, Sie werden
Weitere Kostenlose Bücher