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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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hatte Rüdiger sterben müssen? Nein, korrigierte er, die Frage ist: Was habe ich getan, dass Rüdiger sterben musste?
    »Was hast du getan?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Fankow stand in der Tür, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Was hast du getan?«, wiederholte er.
    Philip verstand die Frage nicht. Er wischte sich die Tränen fort, und langsam sickerte das Begreifen in seinen aufgewühlten Verstand. Hier stand er, die bluttriefende Kamera baumelte in seiner Hand, das Blut fraß sich in seine Schuhe – der Anblick war mehr als verfänglich, er war eindeutig. Genauso gut hätte er sich ein Schild um den Hals schnüren können mit der Aufschrift: Ich hab Rüdiger Dehnen erschlagen!
    »Es ist… es ist nicht…«, stammelte Philip. Jetzt fiel ihm die Begegnung im Flur wieder ein: Der Mann mit der Kapuze, den er angerempelt hatte… »Es ist nicht, wie Sie denken.« Das klang wie aus einem schlechten Film.
    Die Erkenntnis ragte so klar wie die Sonne an einem eisigen Wintertag vor ihm auf: Man würde ihn des Mordes bezichtigen. Und es spielte keine Rolle, dass nicht er den Fotografen erschlagen hatte – die Fakten sprachen eine eindeutige Sprache. Guten Tag, Herr Kommissar, der Mörder bin nicht ich. Der Mörder ist ein Geist. Ich habe ihn gesehen. Lebhaft konnte er sich die Reaktionen ausmalen. Man würde ihn für verrückt erklären. So verrückt, dass man nach einem weiteren Tatmotiv gar nicht mehr suchen musste. Philip? Aber natürlich, der war schon immer so durchgeknallt. So sind sie, die Berliner. Eine große Freiluftpsychiatrie. Keiner kommt mit seinem Leben klar.
    Er musste raus hier, und zwar schleunigst. Er musste recherchieren, nachforschen, Fragen stellen. Das waren Rüdigers Worte gewesen. Philip kam es vor, als läge das Gespräch mit dem Fotografen eine halbe Ewigkeit zurück.
    Er stopfte die Kamera in seine Jackentasche und wandte sich von der verstümmelten Leiche ab.
    »Komm mir nicht zu nahe«, warnte Fankow. Seine Stimme zitterte, er würde es nicht wagen, Philip aufzuhalten.
    »Piss die Wand an!«, Philip schubste seinen ehemaligen Chef beiseite. Dieser prallte mit einem Aufschrei gegen die Wand und räumte unfreiwillig den Weg. »Du kommst nicht weit!«, schrie er ihm hinterher.
    Philip stemmte die Eisentür zum Treppenhaus auf, nahm immer fünf Stufen auf einmal und war sich dabei bewusst, dass er den gleichen Fluchtweg wählte wie der Mörder.
    Unten brach er in die Dezemberkälte, ohne dass ihn jemand aufhielt. Dankbar tauchte er in die Touristenmenge auf dem Alexanderplatz und nahm die erstbeste U-Bahn, die einfuhr. Die schlingernden Waggons trugen ihn fort in einen der dunklen Schächte unter Berlin.
    Hier fühlte er sich vorerst sicher, aber sein Verstand raste. Er war geflohen. Und wer flüchtete? Nur der, der schuldig war. Die Beamten, die vermutlich inzwischen im Verlag eingetroffen waren, den Tatort untersuchten und Beweise sammelten, mussten ihn für einen Verbrecher halten. Einen Mörder. Doch sie irrten sich. Er war nicht der Täter, er war Zeuge eines Mordes geworden. Zum zweiten Mal in zwei Tagen, fiel ihm ein, ein seltsamer Zufall. Jetzt erinnerte er sich auch an seinen Traum in der letzten Nacht. Noch ein Zufall?
    Die Triebwerke bremsten kreischend und der Zug fuhr in die Station Klosterstraße ein. Helles Licht strömte abrupt, als habe jemand einen Scheinwerfer eingeschaltet, ins Waggoninnere. Die Menschen beobachteten ihn. Sie warfen ihm verstohlene Blicke zu. Unsinn, seine gereizten Nerven spielten ihm einen Streich. Niemand wusste, dass die Polizei ihn suchte – noch nicht. Obwohl die Berliner Verkehrsbetriebe die U-Bahn-Wagen im Winter gut beheizten, fröstelte er.
    Philip senkte den Blick. Ein zweitoniges Hupen erklang, die Türen schlossen. Als die Bahn sich in Bewegung setzte und den Schienen wieder in die dunkle Röhre folgte, beruhigte er sich halbwegs.
    Er hatte den toten Rüdiger entdeckt, noch bevor erermordet worden war. Nein, das war falsch, musste falsch sein. Denn wenn es so gewesen wäre, hätte Philip die Gräueltat verhindern können. Doch die Kapuzengestalt war nur ein – Geist gewesen.
    Rüdigers Leiche auf dem Teppich dagegen war Realität gewesen, sie hatte die ganze Zeit über dort gelegen. Und auf eine Weise, die sich seinem Verständnis entzog, hatte Philip zur gleichen Zeit Rüdigers letzte Minuten verfolgen können. Er wagte nicht, die Wahrheit, die hinter alldem lauerte, auch nur zu denken. Das Unmögliche möglich machen. Er musste

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