Ruf der Toten
sehen.«
Philip betrachtete die Zeichnung. »Und was ist L’uomo?«
»Aber, aber, das wissen Sie nicht?« Er sah Philip an, als hätte dieser gerade eröffnet, dass er nicht wusste, wer der Papst war. »Wenn ich mich nicht täusche, hängt die Zeichnung heute in der berühmten Gallerie dell’Accademia in Venedig.«
»Natürlich, ich kenne die Zeichnung. Aber was oder wen sie darstellt…« Philip hob die Achseln.
»Ts, ts, ts«, brummte es aus Steckners Zottelbart hervor; das Augenzwinkern allerdings verriet, sein Tadel war nicht ernst gemeint. »Uuomo ist das Bildnis eines Mannes, mit dem der italienische Künstler Leonardo da Vinci 1492 den goldenen Schnitt darstellte.«
»Der goldene Schnitt?«
»Oder die Proportionsstudie nach Vitruv, die als anatomisch genaueste Darstellung des Menschen aus jener Zeit gilt. Allerdings war da Vinci ein umstrittener Künstler. Noch heute ist man sich uneins, welche Geheimnisse diese Zeichnung außerdem birgt.«
»Und was heißt das?«
»Nun, bei einem der Geheimnisse handelt es sich beispielsweise um einen geometrischen Algorithmus in Menschengestalt. In dieser Einheit soll Leonardo die Lösung der so genannten Quadratur des Kreises gesehen haben.«
»Das ist doch unmöglich.«
»Eben genau darum geht es doch. Um das Mögliche im Unmöglichen.«
»Worum?«
»Symbolik. Darum geht es am Ende doch immer. Da Vinci war zugleich Künstler und Wissenschaftler. Man sagt ihm sogar die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft nach. Diese sollte Wissen bewahren, das die Geschichte der Menschheit auf den Kopf stellen würde. Wissen, welches das Unmögliche vielleicht möglich macht. Wer weiß… Erwiesen ist nur, da Vincis künstlerisches Werk ist voll von Anspielungen, Mysterien, Geheimnissen – Symbolen, die wir entschlüsseln müssen.«
Als Philip mit dem Fahrstuhl in die Etage der Fotoredaktion emporglitt, zog er Bilanz. Es war nicht viel, was er im Archiv hatte in Erfahrung bringen können. Gleichwohl hatte er das Gefühl, dass es von Bedeutung sein würde, wenn er auch noch nicht überblicken konnte, warum. Gedankenverloren verließ er die Kabine auf der vierten Etage, rempelte einen Mann mit ins Gesicht gezogener Kapuze an, der ohne Philips gemurmelte Entschuldigung eines Wortes zu würdigen im Treppenhaus verschwand, und betrat das Büro von Rüdiger Dehnen. Er erstarrte.
Es war nicht die schmächtige Gestalt des Fotografen, die ihm einen Schock versetzte, weil sie mit glasigen Augen und eingeschlagenem Schädel auf dem Boden lag. Es war auch nicht das Blut, das ihn mit Abscheu erfüllte, das viele Blut, das im ganzen Zimmer verspritzt war. Es war der fahle Körper, der am Schreibtisch saß und die Leiche am Boden mit Missachtung strafte. Es war Rüdiger selbst, der über seinen Leuchttisch gebeugt saß und arbeitete, obwohl er tot am Boden lag.
London
Das Büro von Dr. Richard Manzini, Geschäftsführer des Hampstead Medical High, war das genaue Gegenteil der Krankenzimmer, über die er wachte – ein einziger überheblicher Ausdruck von Protz und Prahlerei. Bücherregale, überbordend vor Folianten und Aktenordnern, ragten bis hoch unter die Decke. Die obersten konnte man nur mit Hilfe einer Leiter erreichen. Eine Stehleuchte spendete dem Raum das entsprechende Licht, nicht aufdringlich, aber trotzdem hell genug, dass die Originalbilder an den Wänden nicht mit schlichten Kunstdrucken verwechselt werden konnten.
In der Mitte war der kantige Schreibtisch platziert. Dahinter saß der Geschäftsführer in einem Ledersessel und strich sich seinen Anzug glatt, als rechne er damit, dass jeden Augenblick die Queen höchstpersönlich ins Zimmer trete. Neben ihm stand Dr. Martensen, der Chefarzt. Beide blickten sie abwechselnd auf Paul und Bart, die auf zwei schmalen Stühlen vor dem Schreibtisch saßen und Mühe hatten, ihre Erschütterung zu verbergen.
»Es tut mir Leid, meine Herren«, sagte Manzini. Die Beileidsbekundung schien so etwas wie ein geflügeltes Wort in seinem Hospital zu sein. Jetzt nestelte er einen Fussel von seinem Hosenbein.
»Das ist alles, was sie dazu zu sagen haben?«, fragte Bart ungläubig. Weil Paul kaum dazu in der Lage war, übernahm sein Bruder das Gespräch.
»Was erwarten Sie?«, fragte Manzini, während er seine fein manikürten Hände auf dem Schreibtisch faltete.
Bart beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne. »Ich habe keine Ahnung, was ich erwarte, Mister Manzini. Aber ich weiß, wo Sie sich Ihr Beileid hinschieben
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