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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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unscheinbare Haus in einer kleinen Gasse unweit der Piazza Nivona betrat und sich dort um einen wackeligen Tisch versammelte. Ein zufälliger Zeuge dieser Zusammenkunft hätte sich wohl gewundert, was hoch angesehene Würdenträger, wie es diese Männer ohne Zweifel waren, an so einen Ort verschlagen haben mochte. Es waren Bischöfe, Kardinäle, Prälaten, ein Dekan und ein Abt – doch ihre Position im Heiligen Rat der Kirche war an diesem Ort ohne Bedeutung. Hier waren sie alle gleich. Und keiner von ihnen machte einen Hehl aus seiner Skepsis.
    »Ich hoffe, Sie haben diesmal einen guten Grund dafür, uns hierher zu bestellen«, bellte Jürgen Launitzer, seines Zeichens Erzbischof von Köln, während er sich die schmerzende Leiste hielt. Es war allseits bekannt, dass er sich schon bald nur noch mit einem künstlichen Hüftgelenk würde fortbewegen können.
    Boris Garnier, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, der die Handbewegung des Erzbischofs mitbekam, warf zustimmend ein: »Ich hätte morgen früh mein Kniegelenk auf dem Operationstisch richten lassen müssen. Der Termin ist wohl geplatzt.«
    »Eure Sorgen möchte ich haben«, lächelte Antonio Capote, ein Prälat aus Venedig, dem das Haar schlohweiß über die Ohren fiel. »Ich müsste im Augenblick auf einer Benefizveranstaltung zugunsten unserer Ordensschwestern vom Kloster der heiligen Theresa zugegen sein.«
    Monsignore Mundaste aus Südafrika, der einzige dunkelhäutige Geistliche am Tisch, gähnte. »Und ich habe die Andacht für einen befreundeten Politiker aus Johannesburg, den sie auf offener Straße erschossen haben, verlassen müssen.«
    Bischof de Gussa hielt sich, wie er es immer tat, erst einmal zurück. Er ließ die knorrigen alten Männer schimpfen, wie sie es immer taten, wenn sie zusammentrafen, er nahm es ihnen nicht übel. Seine Freunde klagten über Rheuma, Gicht, Atemnot, Gliederschmerzen und darüber, dass die Zeit gekommen sei, sie endlich abzuberufen und durch Jüngere zu ersetzen, obwohl sie wussten, dass dies unmöglich war. Doch wenn die Situation es erforderte, waren sie trotzdem in Windeseile am Flughafen, jetteten um die halbe Welt, nur um sich wenige Stunden später an diesem geheimen Ort versammeln zu können. Denn in Wahrheit wollte keiner von ihnen eine entscheidende Entwicklung verpassen.
    Freilich war der Ernstfall bislang noch nicht eingetreten, jedes Treffen nur Makulatur, bei dem sie sich ihrer Verschworenheit versicherten, manchmal den Nachfolger für einen verstorbenen Freund in ihre Runde einführten oder andere unwesentliche Details für die Zukunft beschlossen. Doch diesmal deutete alles darauf hin, dass sie weitreichende Entscheidungen würden fällen müssen.
    Irgendwann wurde es de Gussa zu bunt. Er erhob seine Hand, und das Licht der schlichten Wandleuchten ließ den Diamantring an seinem Finger funkeln. Abrupt verstummten die Männer. Erwartungsvoll blickten sie zu ihm. De Gussa kostete die Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkten, einen kurzen Augenblick lang aus. Dann sagte er: »Er ist erwacht.«
    Drei schlichte Worte, die trotzdem wie Kanonenkugeln zwischen die Männer fuhren. Ihre Körper zuckten zusammen, der Ausdruck auf ihren Gesichtern taumelte zwischen Unglaube, Faszination und Sorge. Sie begannen zu tuscheln, wiederholten fassungslos das Gehörte, sahen sich an, bestätigten es sich gegenseitig.
    »Er ist erwacht?«
    »Er ist erwacht!«
    »Erwacht!«
    »Wach!«
    »Gütiger Gott.«
    »Was heißt erwacht?«, durchbrach ein Mann mittleren Alters den Stimmenwirrwarr. Er trug einen schwarzen Talar, dessen weißer Kragen steif in seinen Hals drückte und dabei den Anschein erweckte, als würde er ihm den Atem abschneiden. Sein Name war Fabricio Lucarno.
    »Er hat gestöhnt«, entgegnete de Gussa knapp.
    »Und was bedeutet das genau?« Alle Augen waren auf Lucarno gerichtet. Mit seinen 49 Jahren war der Abt der Jüngste unter ihnen und gerade erst als Nachfolger von Laurent Bones, dem dahingeschiedenen Bischof aus New York, in ihre Runde eingeführt worden. Nur die Tatsache, dass er erst so kurze Zeit Teil ihrer Gemeinschaft war, verhinderte, dass die Anwesenden ihrer Empörung über diese überflüssige Frage Luft machten.
    »Es bedeutet, dass es so weit ist«, erklärte Monsignore Mundaste nachsichtig. Obwohl er seit über dreißig Jahren als Missionsbischof in Mariannhill arbeitete, war es ihm nie vollständig gelungen, seinen niederländischen Akzent abzulegen.
    »Dass es beginnt«, bekräftigte

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