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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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noch schlimmer werden?«
    Manzini schwieg. Martensen blickte in den Londoner Nebel.
    »Komm, Paul«, sagte Bart und ging zur Tür. »Wir haben hier nichts mehr verloren.«

Berlin
     
     
     
    Der Fotograf saß an seinem Leuchttisch und schaute auf, so wie er es für gewöhnlich tat, wenn jemand sein Büro betrat. Im Fenster hinter ihm vermischte sich die starre Skyline mit dem Himmel, dunkelgrau in hellgrau. Kein imposanter Anblick, sture Langeweile.
    Vage war sich Philip bewusst, dass noch jemand anderes im Zimmer war; eine kleine reglose Gestalt, die auf dem Boden lag und nicht mehr atmete. Doch konnte er sie nicht mehr genau erkennen; etwas schien an dieser Stelle zu flirren und eine undurchsichtige Wand zu bilden. Es war, als sei eine Falte im Gewebe der Welt entstanden.
    Rüdiger am Schreibtisch öffnete die Lippen zu einer Bemerkung, doch dann schloss er den Mund wieder. Erstaunen spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Für eine Sekunde war Philip versucht, ihn zu fragen, was ihn verblüffte, vielleicht seine eigene Leiche auf dem Boden, doch das war absurd. Er war sich ziemlich sicher, dass Dehnen sie nicht sah.
    Ein kalter Windhauch berührte Philip. Der Luftzug streifte ihn nicht wirklich, sondern glitt vielmehr durch ihn hindurch. Das Gefühl kam dem Schaudern nach einem leichten Stromstoß nahe, nicht tödlich, nicht einmal wirklich gefährlich, dennoch höllisch unangenehm. Ihm wurde schwarz vor Augen und er glaubte, die Welt würde einen Satz machen, in welche Richtung auch immer. Hauptsache, der Schrecken hätte danach ein Ende.
    Doch die Welt zeigte sich gnadenlos. Es war keine gnädige Ohnmacht, die ihm den Blick verstellte, sondern ein Mann, der in das Zimmer getreten war – mitten durch ihn hindurch. Philip fröstelte, mit einem Mal herrschte in dem Büro das Klima einer Tiefkühltruhe.
    Die Kälte ging von dem Mann aus, der vor Rüdigers Schreibtisch aufragte. Sein Kopf war zur Hälfte unter einer dunklen Kapuze verborgen, und das wenige, was Philip in dem fahlen Licht des Leuchttisches von ihm erkennen konnte, war so kahl und knochig und voller Narben, dass es wie ein übel zugerichteter Totenschädel aussah. Dunkle Ringe unter den Augen bildeten die einzige Farbschattierung in seiner gespenstischen Blässe.
    Die Kapuzengestalt griff nach etwas, was auf einer der drei Kisten lag. Rüdiger sagte etwas, doch Philip verstand ihn nicht. Dann hielt die knochige Gestalt einen Fotoapparat in den Händen. Philips Fotoapparat. Er hörte das Glucksen, mit dem Rüdigers Stimme erstarb, als das Gehäuse der Kamera seinen Hinterkopf traf und er das Bewusstsein verlor.
    Philip wollte helfen. Er stürzte sich auf den Mann, griff nach dem Arm, der die Kamera hielt, doch er fasste ins Leere. Er geriet ins Straucheln und fiel auf die Knie, wankte unter dem Aufprall, ohne den Schmerzen Beachtung zu schenken. Er glaubte, den Mann verfehlt zu haben. Er riss seinen Oberkörper herum, wollte die Unterschenkel packen, den Mann von den Beinen reißen, bevor er mit dem zweckentfremdeten Fotoapparat erneut zum Schlag ausholen konnte, und griff durch ihn hindurch. Der Angreifer war wie eine Wolke. Ein Nichts. Ein Geist. Es knirschte, als das Objektiv Rüdigers Schädeldecke zertrümmerte.
    Ein Orkan der Gewalt tobte vor Philips Augen, grauenhaft und dämonisch. Tränen pressten sich unter seinen Lidern hervor, weil es ihm nicht gelang, Rüdigers Tod zu verhindern. Er versank im Strudel des bizarren Geschehens, eine bodenlose Grube, die sich unter ihm auftat. Er stürzte hinab, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Vielleicht verlor er den Verstand. Vielleicht war das sogar besser. Manchmal war der Wahnsinn eine Gnade.
    Irgendwann hörte das Gemetzel auf, noch immer rannen Tränen Philips Wangen hinab. Das Zimmer war leer. Nur ein Geist, nur ein Geist, wisperte eine Stimme. Mitten im Raum lag die verstümmelte Leiche, die einmal Rüdiger Dehnen gewesen war. Seine Augen standen offen, das Weiße war mit einem blutigen Film überzogen, blutverschmiert auch sein hageres Gesicht und seine Glatze. Auf seiner Stirn, an der linken Schläfe und an den Wangen waren tiefe Wunden sichtbar. Aus den Kopfwunden sickerte eine klare Substanz, die bleiche Furchen durch das Blut zog.
    Daneben lag die Kamera. Ihr Gehäuse schimmerte klebrig rot. Das Objektiv war ein Alptraum aus Fleischfetzen, Hirn und Knochen. Er hob die Kamera auf, seine Kamera. Das Blut war noch warm. Ihm war, als zöge sich eine Schlinge immer enger um seinen Hals. Warum

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