Ruf der Toten
können!«
Martensen räusperte sich despektierlich. »Ich kann Ihre Verärgerung…«
»Verärgerung?«, fuhr Bart auf. »Wir sind nicht verärgert. Wir sind wütend. Stinksauer.«
»Das verstehen wir durchaus«, erklärte Manzini, und seine Stimme hob sich um keinen Deut. Im gleichen Tonfall hätte er einem Trupp Senioren auf einer Butterfahrt ins Grüne Heizdecken aufschwatzen können. »Doch wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um die…«Er räusperte sich. »… sterblichen Überreste Ihrer Freundin zu finden.«
»Es ist nicht meine Freundin«, knurrte Bart. »Es ist die Freundin meines Bruders.«
Manzini nickte. Martensen wanderte zum Fenster und starrte in die trübe Suppe, die der Dienstagmorgen über London ausschüttete. »Wir haben das ganze Krankenhaus durchsucht.«
Bart funkelte ihn giftig an. »Und?«
»Mister Griscom«, warf Manzini mit seiner Butterfahrtstimme ein. »Wir sind uns durchaus bewusst, dass es sich hierbei um einen schrecklichen Vorfall handelt. So etwas darf nicht passieren, keine Frage. Und doch geschehen manchmal Dinge, die nicht zu verhindern sind. Sehen Sie, wir sind ein Hospital mit sehr vielen Patienten. Unser Einzugsbereich ist beinahe der ganze Norden Londons. Unsere Ärzte und Pfleger leisten jeden Tag alles Menschenmögliche, manchmal sogar Unmögliches. Wir retten Menschenleben. Nur eines darf man dabei nicht vergessen: Wir sind auch nur Menschen. Und Menschen unterlaufen manchmal Fehler.«
»Sie wollen also behaupten, es sei ein simpler Fehler, dass die Leiche verschwunden ist.«
»Wie ich schon sagte, es ist…«
»O Mann!«, fluchte Bart. »Jetzt lassen Sie Ihr offizielles Geseiere doch endlich einmal beiseite und sagen uns, was wirklich passiert ist! Zuerst wissen Sie nicht, warum Beatrice ins Koma gefallen ist. Dann stirbt sie noch am selben Tag, ohne dass Sie ihr helfen können, und zum krönenden Abschluss geht Ihnen dann rein zufällig ihre Leiche verloren. Also bitte, verkaufen Sie uns doch nicht für dumm!«
Manzini pflückte einige unsichtbare Staubkörner von seinem Jackettärmel, bevor er antwortete: »Wie ich Ihnen bereits mitteilen wollte, bevor Sie mich unterbrachen. Es muss hier eine Verwechslung vorliegen.«
Paul erhob sich langsam. Sein Bruder versuchte ihn zurückzuhalten, doch Paul wehrte ab. »Eine Verwechslung?«, fragte er. »Sind Sie sich da sicher?«
Manzini legte die Stirn in Falten, seine erste menschliche Regung, seit sie das Büro betreten hatten. »Was wollen Sie damit andeuten? Glauben Sie etwa, aus unserem Krankenhaus werden Leichen gestohlen?«
Paul rief sich das zerwühlte Bettzeug auf Zimmer 313 vor Augen. »Nein, das will ich damit nicht andeuten. Ich will vielmehr sagen: Kann es vielleicht sein, dass meine Freundin gar nicht tot ist?«
Manzini warf Martensen einen raschen Blick zu. Der Arzt drückte seinen Rücken durch. »Das ist unmöglich. Ich habe sie untersucht. Sie war tot.«
»Und trotzdem ist sie weg!«
»Sie war tot!«, wiederholte Martensen. »Keine Atmung, kein Puls, keine Herztätigkeit, sie war bewusstlos, ihre Muskeln gelähmt. Selbst erste Anzeichen der Rigor mortis…«
»Der was?«
»… der Leichenstarre waren festzustellen. Wollen Sie also an meinen Fähigkeiten als Arzt zweifeln?«
Nun sprang auch Bart auf. »Natürlich, das müssen wir sogar. Nach alldem, was hier passiert ist.«
»Meine Herren, bitte, beruhigen Sie sich«, bat der Geschäftsführer händeringend und wies auf die Stühle.
»Einen Teufel werden wir tun«, schimpfte Bart und verpasste dem Stuhl einen Tritt. Er schwankte und fiel krachend zu Boden. »Wir werden die Öffentlichkeit wissen lassen, wie schlampig in diesem Krankenhaus gearbeitet wird. Wir werden die Polizei verständigen. Denn das ist ein Fall für die Polizei. Ein Skandal ist das! Wir werden Sie verklagen! Ja, das werden wir.«
»Herr Griscom.« Manzini stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Seine Stimme nahm einen versöhnlichen Klang an, den bereits vertrauten Butterfahrtklang. »Ich bitte Sie, überstürzen Sie nichts. Ich bin fest davon überzeugt, schon bald wird sich alles aufklären. Haben Sie noch ein bisschen Geduld. Wir wollen doch nicht, dass alles noch schlimmer kommt.«
»Noch schlimmer?«, rief Paul. Hatte dieser Lackaffe in seinem gebügelten Anzug gerade andeuten wollen, Beas Tod sei halb so wild? Sein Schmerz wurde zusehends von grenzenloser Wut überdeckt. »Was kann denn noch schlimmer werden? Ich frage Sie: Was, zum Teufel, kann
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