Ruf der Toten
»Wenn sie dich fragen, sag ihnen, du hättest mich seit gestern nicht mehr gesehen.«
Sie sah ihn an, eine Sekunde, zwei Sekunden, unschlüssig und verständnislos. Sie suchte nach etwas. Irgendetwas. Nur ein einziger Hinweis von ihm, der ihr sagte, dass alles in Ordnung war oder nur ein Irrtum. Ein Scherz. Sie fand nichts.
Enttäuschung legte sich über ihr Gesicht, dennoch nickte sie und verließ das Schlafzimmer. Hinter ihr drückte er die Tür in den Rahmen.
London
Hampstead Chronicle, Mittwoch, 3. Dezember 2003
Leiche gestohlen?
Paul G. 26, traute seinen Augen nicht, als er am vergangenen Mittwoch im Hampstead Medical High von seiner verstorbenen Freundin Beatrice H. 22 (Foto), Abschied nehmen wollte – ihre Leiche war verschwunden!
Paul G. arbeitet in dem kleinen Hotel ›The North Side‹, das seine Eltern Elizabeth und Paul sen. seit mehr als dreißig Jahren nicht unweit des Hampstead Heath betreiben. Die Bed-&-Breakfast-Pension am Park ist ein beliebtes Ziel für London-Touristen; hier werden sie freundlich empfangen und können sich wie zu Hause fühlen. Doch seit Montag wird die Herzlichkeit des rührigen Familienbetriebs überschattet von traurigen Ereignissen.
Am Montag verstarb überraschend Pauls Freundin Beatrice H. In vier Monaten – am 4. April 2004 – hatte er sie heiraten und mit ihr das Hotel seiner Eltern übernehmen wollen.
»Wir hatten so viele Pläne«, erzählt er voller Trauer. »Unsere Hochzeitsreise sollte in die Toskana führen. Wir hatten alles schon gebucht. Und jetzt…« Pauls Stimme stockt. Er weint. Ein tragischer Verlust für den jungen Mann.
Doch als wäre das noch nicht schlimm genug, muss er zukünftig auch noch einen ganz anderen Schock überwinden. Den nämlich, dass die Seele seiner Beatrice niemals Frieden finden wird.
»Es ist ein Skandal!«, betont sein Bruder Bart, 24, der den Vorfall ebenso wenig begreifen kann. Als die Familie am Montag im Hampstead Medical High Abschied von Beatrice nehmen wollte, war ihre Leiche aus dem Hampstead Medical High, wo sie zuletzt behandelt worden war, verschwunden.
Auf Nachfragen der Chronicle-Redaktion reagierte der Geschäftsführer des Medical High, Dr. Richard Manzini, äußerst frostig: »Wir bedauern den Vorfall und sind um eine schnelle Aufklärung bemüht.«
Kurz vor Redaktionsschluss war zu erfahren, dass die Familie G. Anzeige erstattet hat. Scotland Yard ermittelt.
Paul G. leidet derweil weiter. Psychologen verweisen immer wieder darauf, wie wichtig es ist, im Trauerfall angemessen Abschied von den verstorbenen Lieben zu nehmen, um ihren Tod verarbeiten zu können. Die Chance darauf ist ihm genommen worden.
Bart faltete die Zeitung zusammen und warf sie auf den Tisch. »O Mann, was bin ich froh, dass sie nichts über den Unsinn geschrieben haben, den du gestern verzapft hast.« Kopfschüttelnd griff er nach einer Flasche Budweiser, die vor ihm auf dem Glastisch stand. Doch als er Pauls empörten Blick bemerkte, hielt er inne.
»Unsinn nennst du das?«, fragte Paul und hatte Mühe, die Wut in seiner Stimme zu verbergen.
»Paul, ich bitte dich.« Jetzt hob er das Budweiser doch an und nahm einen Schluck. Als er wieder absetzte, fuhr er fort: »Gestern im Krankenhaus hast du dafür gesorgt, dass wir ziemlich dumm dagestanden haben, zum Glück waren da nur der Arzt und dieser ungehobelte Geschäftsführer anwesend. Aber stell dir vor, die Zeitung hätte Wind davon bekommen und das geschrieben! Was meinst du, was die Leute von uns denken würden?«
»Wir stehen dumm da? Was die Leute von uns denken?«, Paul blickte ihn entgeistert an. »Was interessiert mich das Geschwätz anderer Leute?«
»Das sollte es aber!« Bart knallte die Bierflasche so heftig auf den Tisch, dass das dickwandige Glas einige Sekunden lang zitterte. »Nicht nur wegen dir, auch wegen unserer Eltern.«
»Pah, was wissen Eltern schon?«
»Es geht nicht darum, was sie wissen. Verflucht, es geht darum, was sie haben. Du setzt ihre Existenz aufs Spiel, unsere Existenz. Wer übernachtet schon gerne in einem Hotel, in dem die Besitzer der zweifelhaften Auffassung sind, ihre verstorbene Schwägerin sei von den Toten auferstanden.«
»Darum geht es also?«, knurrte Paul. »Um das Hotel. Ums Geld. Ihr seid doch alle gleich.«
Bart lehnte sich auf dem Sofa zurück und musterte seinen Bruder. »Was ist los mit dir?«
»Mit mir? Mensch Bart, kapier doch: Sie haben Bea gehen lassen!«
»Gehen lassen?«, Bart seufzte.
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