Ruf der Toten
»Paul, nicht schon wieder, bitte! Bea ist tot. Ich verstehe ja, dass du verstört bist. Traurig. Verzweifelt. Es fällt dir schwer, ihren Tod zu begreifen. Nicht nur dir, uns allen. Aber es hat keinen Sinn, dich an solche abwegigen Hoffnungen zu klammern. Versuche, ihren Tod zu akzeptieren.«
»Einfach so?«, fragte Paul scharf. »Nach drei Tagen?«
Sein Bruder rieb sich die Augen. Er war müde, hatte die letzte Nacht kaum geschlafen. Immer wieder hatte Paul versucht, ihn von seiner Vermutung zu überzeugen, die in Barts Ohren nur töricht klang. Als Bart schließlich vorschlug, doch für ein paar Tage zu ihm zu ziehen, hatte Paul allen Ernstes gesagt: »Nein, ich muss da sein, wenn Bea heimkommt.« Da waren Bart die Nerven durchgegangen. Sie hatten sich in der Küche angebrüllt, wo ihre keifenden Stimmen besonders laut geklungen hatten. Als der Nachbar aus dem angrenzenden Haus verärgert gegen die Wand geklopft hatte, war Paul ins Wohnzimmer verschwunden und hatte sich vor ein Bild gehockt, das ihn und Beatrice beim Urlaub in den schottischen Highlands zeigte.
»Paul, ich möchte nicht, dass wir uns auch noch in die Haare bekommen.«
»Müssen wir nicht, Bruderherz.«
»Aber…«
»Es gibt kein Aber. Was erwartest du von mir? Dass ich sage: ›Okay, das war’s. Und weiter im Geschäft‹?«
»Wenn es dir hilft.«
»Nein, es hilft mir nicht.«
»Was dann?«
»Wie oft soll ich es noch wiederholen? Bea ist weg!«
»Ja«, stimmte Bart zähneknirschend zu und führte das Budweiser wieder an die Lippen, »Aber wir müssen uns damit abfinden, dass sie im Krankenhaus großen Bockmist verzapft haben. Um den Rest wird sich die Polizei kümmern.«
»Haben sie nicht!«
Bart setzte die Flasche wieder ab. »Was haben sie nicht?«
»Bockmist verzapft!«
Bart rang Hilfe suchend die Hände. »Du meinst es ernst, oder?«
»Du hast doch selbst ihr Bett gesehen! Hast du nicht?«
»Ja, das habe ich«, gab Bart zu.
»Und sah es nicht so aus, als wäre sie aufgestanden?«
Bart schnaubte. »Auferstanden?«
»Mach dich nicht lustig! Ich sagte: aufgestanden! Das Bett sah nicht so aus, als hätte man sie verlegt. Es machte den Eindruck, als wäre sie einfach aufgestanden und weggegangen.«
Bart wehrte kopfschüttelnd ab. »Nein, Paul, nein. Ich kann deine Trauer verstehen. Mir selbst geht Beas Tod nahe. Wirklich, ich habe sie gemocht. Aber du machst dir etwas vor. Du musst damit aufhören. Du musst damit abschließen, akzeptieren, dass sie tot ist. Und dass man im Krankenhaus einen Fehler gemacht hat.«
»Das haben sie, ja«, knurrte Paul.
»Und damit müssen wir leben.«
»Ja, wir müssen damit leben, dass sie Bea für tot erklärt haben, obwohl sie es nicht war.«
Barts Kopf sank resigniert herab. »Paul, was ist bloß in dich gefahren?«
»Was soll los sein mit mir?«
»Wir drehen uns im Kreis!«
»Ach, gehe ich dir etwa auf den Geist?«
»Paul, bitte…«
»Okay, wie du willst. Ich verschone dich.« Er rannte in die Diele und streifte sich die Jacke über. Dann kam er noch einmal zurück und sah auf seinen Bruder herab, während er sich die Handschuhe über die Finger stülpte. Bart saß auf dem Sofa, auf dem Paul selbst vor zwei Tagen gehockt und irgendwelche dämlichen Zeichentrickfilme geschaut hatte, während er auf Bea wartete – vergeblich. Auf einmal verspürte Paul grenzenlosen Hass auf seinen Bruder, auf die Ärzte, auf die ganze Welt – aber er würde es allen zeigen. »Tröste dich, Bruderherz, ich habe auch die Schnauze voll. Voll von dir und deiner Ignoranz.«
»Du kannst deine Augen nicht vor der…«, brüllte Bart. Die Tür krachte zurück in die Angeln und tilgte den letzten Teil des Satzes.
Draußen trieb ihm ein scharfer Wind die Tränen in die Augen. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft, und Wölkchen traten wie Sprechblasen vor sein Gesicht, wie bei einer Comicfigur. Und so kam er sich auch vor – als sei er unversehens in eine mysteriöse Comicgeschichte geraten. Denn Bea lebte! Davon war er überzeugt. Natürlich konnte er es nicht beweisen. Aber er wusste es. Und das war wenigstens ihm Beweis genug.
Berlin
Der Mann stellte sich als Hauptkommissar Berger vor, Sebastian Berger. Er war hoch gewachsen und unbestimmbaren Alters, trug einen Schnurrbart und einen Anzug, der schon bessere Zeiten erlebt hatte. Kurzerhand trat er an Chris vorbei in die Diele und deutete ein Nicken in ihre Richtung an. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tat, erweckte in Chris
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