Ruf der Toten
Schlafraum ließ er offen stehen.
Sie nickte. Viel zu heftig, befürchtete sie. »Ja, ist gestern ein bisschen später geworden.«
»Mit ihrem Freund?«
Sie setzte zu einer Antwort an und verschluckte sich. Beinahe hätte sie sich verraten. »Nee, mit einer Freundin. War im Kino.«
Hatte er das Zögern in ihrer Stimme registriert? Offenbar nicht, denn er wollte wissen: »Kino? Darf ich fragen, welcher Film?«
»Herr der Ringe«, erwiderte sie und fragte sich, wohin das Gespräch bloß führen sollte.
Langsam ging sie in Richtung Küche, hoffte, er würde ihr folgen.
Seine Mundwinkel sanken herab. »Fantasy? O, damit komme ich gar nicht klar, das ist fast so schlimm wie Geophysik.« Er lächelte über seinen kleinen Scherz. »Nicht meine Welt. Ich mag es lieber bodenständig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Realistischer. Hängt wahrscheinlich mit meinem Job zusammen.« Er sprach betont langsam und schaute dabei drein wie Baumbart, der Ent. »Wissen Sie, wenn man jeden Tag mit Mord und Totschlag zu tun hat, dann kann man an das Gute im Menschen und auf dieser Welt nicht mehr so recht glauben. Elfen, Feen und Zauberer haben da keinen Platz.«
Womöglich würde er als Nächstes noch fragen, wovon der Film handelte – dann stände sie ganz schön auf dem Schlauch. Sie waren in der Küche angekommen. Chris nahm eine Dose Thunfischhäppchen in Gelee aus dem Schrank und klemmte sie unter den Dosenöffner.
»Herr Berger«, mahnte sie höflich, während die Schere das Blech zerteilte, »nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich muss zur Vorlesung und mich vorher noch um meine Katze kümmern, mich duschen und…«
Er schlug sich gegen die Stirn, als sei ihm eben der eigentliche Grund für seinen Besuch wieder eingefallen. »Natürlich, entschuldigen Sie. Ich mal wieder…«
Chris mahnte sich zur Vorsicht; hinter der zerknitterten Fassade des Polizisten verbarg sich ein raffinierter Taktiker. Sie füllte zwei Löffel des Futters in Rabeas Napf. Heißhungrig machte sich die Katze darüber her. »Sie sagten, Sie hätten einige Fragen?«
»Ja, die habe ich.« Er kratzte sich nachdenklich den Schnauzbart, bevor er unvermittelt die erste Frage abschoss. »Sie kennen Philip Hader?«
»Ja, das ist mein Freund.« Sie stellte die Whiskas-Dose beiseite und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Wir suchen Ihren Freund – in einem Mordfall.«
»O, er hat mir davon erzählt. Dann ist es also doch wahr? Die Frau auf dem Ku’damm, eine schreckliche Sache.«
Der Kommissar hob die Augenbrauen. Zum ersten Mal schien er wirklich aus dem Konzept gebracht. »Ku’damm? Eine Frau? Davon wissen wir nichts. Seltsam. Dem werden die Kollegen nachgehen müssen.«
»Aber ich dachte…«
»Wir suchen Ihren Freund als dringend Tatverdächtigen im Mordfall Rüdiger Dehnen.«
»Der Fotograf vom Kurier?«
»Sie kennen ihn?«
»Ich habe ihn kurz auf der Weihnachtsfeier des Kurier kennen gelernt.«
»Philip hatte Schwierigkeiten mit ihm?«
»Er mochte ihn nicht besonders. Ich glaube, das beruhte auf Gegenseitigkeit.«
»Mag sein, aber Ihr Freund hat Herrn Dehnen vorgestern bedroht. Vor Zeugen. Und heute ist Dehnen tot. Ermordet.«
»Und was hat das mit Philip zu tun?«
Er leckte sich über die Lippen, seine Zunge zwirbelte an den Spitzen des Schnurrbartes. Vielleicht hätte sie ihm einen Kaffee anbieten sollen, doch im Augenblick wollte sie sich nicht von der Stelle rühren, nur hören, was er ihr zu sagen hatte. »Ihr Freund wurde am Tatort gesehen – in eindeutiger Situation«, erklärt er ihr, so wie man jemandem erzählt, man habe ein gutes Buch gelesen.
Chris schlug entsetzt die Hand vor den Mund. »In eindeutiger Situation«, wiederholte sie langsam und rollte die Worte in ihrem Mund. »Sie glauben doch nicht etwa, dass er…« Sie wagte nicht, es auszusprechen.
Er verzog die Lippen zu einem missbilligenden Lächeln. Sein Schnurrbart machte einen Satz. »Frau…«
»Czaja!«
Berger nickte entschuldigend und plauderte weiter, als habe er vor zwei Sekunden tatsächlich von einem spannenden Schmöker berichtet: »Entschuldigen Sie, ja, Frau Czaja, was ich glaube, ist absolut irrelevant. Ich halte mich an die Fakten. Und die weisen auf ihren Freund hin.«
»Aber das ist unmöglich.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil er nicht der Typ dafür ist.« Bilder stiegen in ihr auf, während sie Philip verteidigte… wie er mit kahl geschorenem Kopf im dunklen Wohnzimmer gewartet hatte… seine Hände, die sie wie eiserne Klammern
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