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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Kühltruhe neue Würste und legte sie auf den heißen Bratrost, wo sie augenblicklich zu zischeln begannen.
    »Und jetzt, Paula, nimm die Wurst und lass sie dir schmecken.«
    Sie bedankte sich mit einem Lächeln, nahm die Wurst an sich und ging zu Elonard, der auf einer Parkbank saß. Während sie kauten, wiederholte Paula ihre Frage: »Du hast in einer Bank gearbeitet?«
    Er machte ein Geräusch, das sowohl als Zustimmung, aber auch als ein unwilliges Krächzen interpretiert werden konnte. Sie entschied sich für Ersteres und bohrte nach: »Was ist passiert?«
    Es schien ihr richtig, danach zu fragen. Vielleicht brachte sein Schicksal sie auf die richtige Spur; möglicherweise konnte eine zufällige Parallele einen Hinweis auf ihr eigenes Leben geben – etwas, woran sie sich erinnerte, ein gemeinsamer Bekannter vielleicht. Vielleicht wollte sie ihn aber auch nur erzählen hören, um Anteil an überhaupt einem Leben zu haben.
    Er kaute bedächtig. »Ja, ich habe bei der Bank gearbeitet«, sagte er, und ihr entging nicht, dass er nicht mehr abgehackt sprach. Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, gebrauchte er ganze Sätze. »Ich war Broker, Investment, solche Dinge, die schnell viel Geld versprechen – Geld, das aber ebenso schnell wieder verloren gehen kann.« Er hielt die Wurst zwischen seinen speckigen Fingern, tunkte sie in den Ketchup und biss ein Stück ab. Paula wartete geduldig, bis er fortfuhr: »Ich stand kurz davor, mir meinen Traum zu erfüllen. Ich hatte mein Leben lang einen Traum, ein Haus am Meer, zusammen mit meiner Familie, meiner Frau, meiner Tochter.«
    Paula sah ihn an. »Du hast eine Tochter?«
    Er starrte auf den Weg, der an ihrer Bank vorbeiführte und sich zwischen den Bäumen verlor. »Brandy war ihr Name. Brandy, wie die Sängerin.«
    »Ein schöner Name.«
    »Sie war eine Schönheit«, sagte er. »Ganz wie ihr Dad.« Er schnäuzte. »Ganz wie ihr Dad damals. Heute ist er ein Wrack.«
    Paula antwortete nicht. Elonard war nicht wirklich ein Wrack, nur seine äußere Hülle. Gerne hätte sie ihm das gesagt, doch sie war sich sicher, dass er das nicht hören wollte. Er wusste es selbst, doch dieses Wissen änderte nichts an seiner Situation.
    Also schwieg sie und rührte nicht einmal ihre Bratwurst an. Ihr war der Hunger vergangen, denn sie ahnte, was kommen würde.
    »Und während ich daran arbeitete, mir den einen Traum zu erfüllen, entging mir, dass ich dabei war, den anderen Teil zu verlieren. Und eines Tages war es so weit, ich erinnere mich so genau daran, als sei er erst gestern gewesen. Aber das ist natürlich Unsinn. Gestern haben wir uns kennen gelernt.« Er stopfte sich den Toast zwischen die Lippen, kaute ein paar Mal und schluckte dann. Mit beiden Händen strich er sich die Krümel von der Jacke und hinterließ fettige Spuren. Er schien es nicht zu bemerken, und auch Paula schwieg.
    »Es war einer jener Tage, an denen alles nur von einem einzigen Anruf abhängt. Das dicke Geschäft, die ganz große Kohle, die glänzende Zukunft. Meine Frau bat mich morgens, bevor ich das Haus verließ, Brandy von der Schule abzuholen, weil sie Besorgungen für ihre Mutter machen wollte. Ihre Mutter wohnte im Seniorenstift. Jedenfalls wartete ich auf den Anruf, der nicht kam, nicht am Morgen, nicht am Mittag, auch nicht am Nachmittag. Doch ich wartete, wurde immer nervöser, und ich vergaß Brandy. Es gibt keine Entschuldigung dafür, ich habe sie ganz einfach vergessen. Brandy hatte es irgendwann satt, länger auf mich zu warten, und machte sich alleine auf den Heimweg. Und dann war da dieser Autofahrer, der nicht aufgepasst hat.« Seine Stimme verlor sich leise in der Erinnerung. Er schloss die Augen, doch vor dem, was er dennoch sah, würde er nicht fliehen können.
    »Jede Hilfe kam zu spät. Sie war sofort tot. Wenigstens musste sie nicht leiden. Ein schwacher Trost. Und ich? Ich stürzte mich nur noch mehr in die Arbeit. Noch mehr Anrufe. Noch mehr Kohle. Aber das war Bullshit. Denn im Grunde hatte ich längst nicht nur meine Tochter, sondern auch meinen Traum zu Grabe getragen. Ich arbeitete nur noch, um zu vergessen. Um mich der Schuld nicht stellen müssen. Denn natürlich war ich schuld. Und meine Frau ließ keine Gelegenheit aus, mir das unter die Nase zu halten. Du bist schuld an Brandys Tod. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber natürlich hatte sie Recht. Ich bin verantwortlich für den Tod meiner Tochter.
    Eines Abends kam ich nach Hause, wie immer viel zu spät, viel zu

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