Ruf der Toten
erschöpft, viel zu betrunken, und meine Frau lag in der Badewanne. Alles war voller Blut. Sie hatte versucht, sich umzubringen.«
»Warum hat sie…?«
Elonard holte Luft. »Ich weiß nicht, ob sie es tat, weil sie den Tod, den Schmerz, die Erinnerung an unsere Tochter nicht mehr ertragen konnte – oder weil sie mich bestrafen wollte. Ich weiß es nicht. Ich habe nie mehr ein Wort mit ihr sprechen können. Sie lebte noch, und sie kam ins Krankenhaus, wo sie eine Woche im Koma lag. Eine Woche, in der ich jede Stunde an ihrer Seite war.«
Paula begriff. »Und seitdem hasst du Krankenhäuser.«
»Seitdem hasse ich Krankenhäuser, ja. Ich hasse ihre Anonymität, ihren antiseptischen Gestank, dem man nicht entgehen kann, die emotionale Schaukelei zwischen vager Hoffnung und tiefer Depression. Und ich hasse sie, weil mir auch das Letzte, was mir geblieben war, dort genommen wurde. Denn es war zu spät, meine Frau starb sieben Tage, nachdem ich sie in der Wanne gefunden hatte. Alles verloren, meine Arbeit, meine Selbstachtung, meine Seele. Ich selbst bin seitdem verloren.« Er sagte das mit einer todmüden Endgültigkeit und schwieg.
Eine Krähe zog einen Kreis über ihre Köpfe und senkte sich im Sturzflug herab. Ohne sich um ihre Anwesenheit zu kümmern, pickte sie nach den Toastkrümeln.
»Ein Vogel müsste man sein«, sagte Elonard. »Unbeschwert und frei.« Sagte es und stand auf. Paula folgte ihm schweigend. Mit seinen fleckigen Fingern pochte er auf die Zeitungen in seinem Einkaufswagen. »Denn dann brauchte ich auch keine Zeitungen. Dann würde mich das Geschehen dieser Welt nicht interessieren. Keine Börsen, keine Kohle, keine Pennys. Nur ein paar Brotkrummen am Tag würden mir genügen.«
Oben auf dem Stapel lag der Hampstead Chronicle von heute. Die Schlagzeile fiel Paula sofort ins Auge.
Leiche gestohlen?
Aber eigentlich war es nicht die Überschrift, sondern die Person, die auf dem Foto darunter abgebildet war. Dieses Gesicht, diese Haare…
»Das bist du!«, bestätigte Elmi, der ihrem entgeisterten Blick gefolgt war, aufgeregt ihre Vermutung. Gemeinsam lasen sie den Artikel.
»Beatrice«, sagte Paula.
»Paul«, sagte Elonard.
Beatrice holte den Schlüsselbund hervor und betrachtete den Anhänger, auf dem der Name Paul eingraviert war.
»›The North Side‹ kenne ich«, sagte Elonard, und der traurige Unterton, der in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Es fiel ihm sichtbar schwer, die nächsten Worte über die Lippen zu bringen, aber er sprach sie aus – und mit einem Mal war er wieder so wortkarg wie zu Anfang ihrer Bekanntschaft. »Bring dich hin.«
London
Wie an jedem Tag saß Miss Barkley auch heute hinter ihrer Fensterscheibe, strickte und beobachtete mit Argusaugen das Geschehen auf der Straße. Zugegeben, viel passierte gegenwärtig nicht. Seit die arme Beatrice ausgerechnet vor ihrer Hecke zusammengebrochen war und sie den Krankenwagen hatte verständigen müssen, herrschte unter den Nachbarn lähmende Betroffenheit.
Selbstverständlich bekam sie mit, wie Paul Griscom an diesem Morgen voller Wut das Haus verließ. Sie machte sich ihren eigenen Reim darauf, den sie heute Nachmittag im Supermarkt der Kassiererin, der Tochter eines Freundes ihres verstorbenen Mannes, zum Besten geben würde.
Der arme Paul! Der Tod seiner Freundin ging ihm arg zu Herzen. Und dann noch das, was Miss Barkley erst aus der Zeitung erfahren hatte. Wie schrecklich. Die Leiche der armen Beatrice war verschwunden. Ausgerechnet aus dem Hampstead Medical High, von dem Miss Barkley bisher eigentlich nur Gutes gehört hatte – und sie hörte vieles.
Obwohl, sie erinnerte sich da an einen Vorfall, damals, kurz nach dem Tod ihres Mannes, Gott habe ihn selig. Das lag jetzt zwar schon 13 Jahre zurück, aber vielleicht hätte sie schon damals ahnen können, dass in dem Hospital nicht alles so koscher war, wie es den Eindruck machte. Es zahlte sich eben aus, wenn man die Augen offen hielt.
Miss Barkley fühlte sich in ihrem Treiben bestätigt, täglich hinter der Scheibe zu sitzen und das Geschehen in Hampstead zu beobachten. Sie grunzte zufrieden, trank einen Schluck von ihrem Tee, der inzwischen erkaltet war, und überlegte, wo sie sich denn behandeln lassen würde, wenn einmal der Tag käme, an dem ihre Gelenke und Knochen nicht mehr so mitspielten, wie sie sollten. Ganz bestimmt nicht im Medical High, so viel war sicher.
Und dann sah Miss Barkley etwas, was ihren Unmut
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