Ruf der Vergangenheit
schulterlange Haar war zu einem festen französischen Zopf gebunden, und ihre Füße steckten in nagelneuen weißen Sneakern. Auf ihren Lippen erschien ein zögerndes Lächeln, als sie ihn sah. „Hi.“
Und sofort wurde das Metall verdrängt, trat an seine Stelle ein wilder Beschützerinstinkt, dessen Wucht ihn erschütterte. „Wo haben Sie Ihre Stiefel und den Mantel?“, fragte er schroff.
„Hier.“ Das Lächeln verschwand, sie legte die Hand auf eine khakifarbene Reisetasche. „Danke für die Kleidung. Und alles andere.“
„Maggie hat es besorgt.“ Er wies mit dem Kopf zur Tür und streckte die Hand nach der Tasche aus. „Kommen Sie, wir gehen.“
Sie zog die Tasche zu sich hin. „Wohin wollen Sie mich bringen?“ Auch bei ihr schwang eine feine stählerne Saite in der Stimme mit.
Nicht besonders überrascht, zog er die Hand zurück. „Erst einmal nach Vermont in mein Haus.“
„Und Ihre Arbeit?“
Er sah forschend in ihr immer noch sehr blasses Gesicht. War sie einfach nur neugierig oder steckte mehr dahinter? Doch die Antwort auf ihre Frage war kein Staatsgeheimnis. „Die meisten Dinge lassen sich auch von dort regeln.“ Sein Team funktionierte, sein Aufenthaltsort spielte bei ihrer Zusammenarbeit keine Rolle. „Falls es notwendig sein sollte, bin ich schnell wieder hier.“ Shine verfügte über mehrere Hubschrauber, aber er zog es meistens vor, den Wagen zu nehmen – mit einem schnellen Wagen brauchte er höchstens drei Stunden und konnte dabei in Ruhe nachdenken.
„Warum tun Sie das?“ Katyas Augen waren vollkommen klar und die einzelnen Farben – Braun, Grün und Gold – scharf voneinander getrennt. „Warum übergeben Sie mich keinem anderen?“
„Weil ich nicht weiß, wie gefährlich Sie sind“, antwortete er, was zumindest teilweise der Wahrheit entsprach. Sie brauchte nichts von den verwirrenden und ungewollten Gefühlen erfahren, die sie in ihm auslöste, brauchte nicht zu wissen, welche Erinnerungen sie in ihm wachrief. „Sie werden bei mir bleiben, bis ich mir im Klaren darüber bin, was mit Ihnen geschehen soll.“
„Sie könnten mich einfach gehen lassen.“ Ihre Finger krallten sich in den Stoff der Tasche.
„Unmöglich.“
„Dann bin ich auch hier eine Gefangene.“
Das verletzte sein Ehrgefühl, das er sich trotz allem bewahrt hatte. Würde es noch da sein, wenn all dies überstanden war? „Gefangene trifft es nicht ganz, Sie sind eine Feindin.“ Er griff nach der Tasche, ohne sich um ihre Zustimmung zu kümmern.
Katya starrte auf Devs breiten Rücken und musste sich zwingen, aufzustehen. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Zimmer zu sich gekommen war, fühlte sie weder Furcht noch Schrecken oder Sorge. Etwas ganz anderes brannte heiß in ihr.
„Nun kommen Sie schon“, befahl er von der Türschwelle.
Das neue Gefühl war so stark, dass sie Mühe hatte, zu sprechen. „Fahren wir mit dem Zug?“
„Nein, wir nehmen den Wagen.“
Sie ging mit ihm den Flur hinunter, er passte seine Schritte den ihren an, und seine Bewegungen waren so geschmeidig, dass sie genau wusste, sie hätte keine Chance, ihm zu entfliehen. Dennoch spürte sie eine Erregung, einen Kick im Kopf – es musste mit dem Wagen zu tun haben. Wenn sie einen Wagen hätte, könnte sie –
Wieder wurde alles schwarz, der Erinnerungsfetzen erlosch wie der schlecht eingestellte Bildschirm einer Kommunikationskonsole.
Ihre Fingernägel gruben sich so fest in ihre Handflächen, dass die Haut einriss. Mit aller Kraft beherrschte sie sich und hob die Hand vor die Augen, sah sie sich genau an. Ihre Hand. Die zarten Linien waren ihre. Doch neben den blutroten Stellen, die von ihr stammten, gab es weiße Narben, die ihr unbekannt waren. Wann hatte sie sich diese zugezogen? Schmerz pochte in ihrem Schädel, sie musste die Wahrheit herausfinden, ganz egal, wie hässlich sie war.
Eine warme Männerhand schloss sich um ihre Finger. Erschrocken hob sie den Kopf – Dev sah sie stirnrunzelnd an. „Quälen Sie sich nicht“, sagte er und drückte ihre Hand. „Glen meint, die Erinnerung würde mit der Zeit zurückkommen.“
Trotz des Chaos in ihren Gefühlen entzog sie ihm die Hand nicht. Denn wenn er sie berührte, fühlte sie sich wenigstens nicht mehr wie ein Geist. „Ich kann nichts dagegen tun. Nicht zu wissen, wer ich bin, fühlt sich einfach furchtbar an.“
„Deutliche Worte.“ Er ging mit ihr durch die Automatiktüren. „Empfinden Sie immer so stark?“
„Ja.“ Sie schluckte, als sie
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