Ruf der Vergangenheit
haben?“
„Schon möglich – aber irgendwer muss sie vor deiner Wohnung abgesetzt haben.“
„Bin abends gegen zehn gekommen und fünfzehn Minuten später wieder rausgegangen.“ Er hatte sein Handy im Wagen gelassen und sich geärgert, die Arbeit unterbrechen zu müssen, um es zu holen. „Da lag sie bewusstlos vor der Tür.“
Glen schüttelte den Kopf. „Dann kann sie auf keinen Fall ihre Sinne noch so beieinander gehabt haben, dass sie durch die Sicherheitskontrollen hätte schlüpfen können – die feinmotorischen Fähigkeiten sind mit Sicherheit schon vorher ausgefallen.“
Wie hilflos musste sie sich gefühlt haben, was hätte ihr nicht alles zustoßen können – Dev unterdrückte den aufsteigenden Ärger und sah durch die offene Tür zum Bett. Die helle Lampe am Kopfende schien auf das strähnige blonde Haar und hob die Kratzer im Gesicht hervor, die Knochen, die fast durch die Haut stachen. „Sie sieht halb verhungert aus.“
Der stets lächelnde Glen schaute grimmig. „Wir konnten sie noch nicht vollständig untersuchen, aber Arme und Beine sind mit blauen Flecken übersät.“
„Willst du damit sagen, man hat sie geschlagen?“ Heiß schoss die Entrüstung in Dev hoch.
„Gefoltert wäre die richtige Bezeichnung, die Verletzungen sind sowohl älteren als auch neueren Datums.“
Dev fluchte leise. „Wann wird sie wieder richtig bei sich sein?“
„Wahrscheinlich wird die Wirkung der Betäubung erst nach achtundvierzig Stunden vollständig nachgelassen haben. Meiner Meinung nach war es eine einmalige Gabe. Wäre sie dem Mittel über längere Zeit ausgesetzt gewesen, wäre sie noch mehr durcheinander.“
„Halte mich auf dem Laufenden.“
„Wirst du die Polizei informieren?“
„Nein.“ Dev würde die Frau keinesfalls aus den Augen lassen. „Es muss einen Grund geben, warum sie vor meiner Tür gelandet ist. Sie bleibt hier, bis wir herausgefunden haben, was zum Teufel los ist.“
„Dev …“ Glen seufzte tief. „Sie muss eine Mediale sein, wenn sie so stark auf dieses Mittel reagiert.“
„Das weiß ich.“ Sein Geist hatte ein „Echo“ gespürt. Unterdrückt, aber dennoch vorhanden. „In diesem Zustand stellt sie keine Gefahr dar. Wir reden weiter, wenn sie wieder auf den Beinen ist.“
Im Zimmer piepte etwas, Glen sah auf sein Gerät. „Alles in Ordnung. Hast du nicht heute Morgen eine Verabredung mit Talin?“
Dev verstand den Wink und fuhr zum Duschen und Umziehen nach Hause. Kurz nach halb sieben betrat er erneut das Hauptquartier der Shine -Stiftung. In den vier oberen Stockwerken befanden sich Gästewohnungen, die mittleren zehn beherbergten Büroräume, unter der Erde waren der Krankenhaustrakt und die Forschungslabors untergebracht. Und seit heute – eine Mediale. Eine Frau, die sich als der neuste Versuch des Rats erweisen konnte, die Vergessenen zu vernichten.
Aber im Augenblick schlief sie, und auf ihn wartete eine Menge Arbeit. „Stimmerkennung aktivieren – Devraj Santos.“ Der durchsichtige Bildschirm seines Computers glitt nach oben und zeigte die ungelesenen Nachrichten. Seine Sekretärin Maggie wusste genau, welche Antworten „warten konnten“ und welche „dringend“ waren, diese zehn fielen ausnahmslos in die letzte Kategorie – obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte. Dev lehnte sich zurück und sah auf die Uhr.
Noch zu früh für einen Rückruf – selbst in New York saß kaum jemand um Viertel vor sieben am Schreibtisch. Aber das waren ja auch nicht Direktoren von Shine oder Oberhäupter einer vieltausendköpfigen „Familie“, die im ganzen Land, sogar in der ganzen Welt, verstreut war.
Unvermeidlich musste er dabei an Marty denken.
„Diese Arbeit“, hatte sein Vorgänger gesagt, nachdem Dev den Direktorenposten angenommen hatte, „wird dein Leben verschlingen, dir das Mark aus den Knochen saugen und dich danach wie eine leere Hülse ausspucken.“
„Du bist doch auch dabeigeblieben.“ Marty war über vierzig Jahre lang Direktor gewesen.
„Ich hatte Glück“, hatte der Ältere ohne Umschweife geantwortet. „Als ich anfing, war ich bereits verheiratet, und ich werde meiner Frau auf ewig dankbar sein, dass sie den ganzen Mist mit mir durchgestanden hat. Du fängst alleine an und wirst bis zum Ende allein bleiben.“
Dev wusste noch genau, wie er gelacht hatte. „So wenig hältst du also von meinem Charme.“
„Und wenn du noch so charmant bist“, schnaubte Marty, „Frauen wollen, dass man Zeit mit ihnen verbringt.
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