Ruf der verlorenen Seelen
bitte, dass es bei mir heute Abend
spät wird? Er soll sich selbst was zu essen machen.« Ohne eine
Antwort abzuwarten, gab Ann ihr einen flüchtigen Kuss auf die
Wange, und der verbrannte Geruch umwehte sie beide â nur
dass Ann ihn nicht wahrnahm. »Ich muss mich beeilen. Bis
dann.«
Violet schaute ihr nach. Sie mochte Ann, sehr sogar. Sie war
schnell und witzig, und sie gab Violet immer das Gefühl, willkommen
zu sein. Sie fühlte sich bei ihr wie zu Hause.
Sie hängte ihre Jacke über eine Stuhllehne und ging leise die
Treppe hoch zu Jays Zimmer. Sie gab sich Mühe, ihn nicht zu
wecken, als sie die Tür hinter sich zuzog. Sie schaute ihn an,
wie er auf dem Rücken lag und schlief. In seiner Gegenwart
kehrten ihre Lebensgeister zurück.
»Was machst du hier?«, murmelte er, ohne die Augen zu
öffnen.
Violet zuckte zusammen, als wäre sie bei etwas Verbotenem
ertappt worden. Wie damals, als sie dabei erwischt wurden, wie
sie sich ein Heft mit Nacktfotos anguckten, das ein Mitschüler
in den Unterricht mitgebracht hatte.
Jay drehte sich auf die Seite, machte ein Auge auf und grinste.
»Komm her«, brummte er und hob einladend die Decke an
einer Seite hoch. Er sah zerknautscht, verschlafen und sehr verführerisch
aus.
Violet streifte die Schuhe ab und stieg zu ihm ins Bett. Er
schlang den Arm um sie und zog sie zu sich heran. Sein Atem
war warm, sein Körper noch wärmer, und zum ersten Mal, seit
sie heute Morgen die Werft betreten hatte, taute sie wieder auf. Die Heizung im Auto auf dem Heimweg hatte nichts genützt.
Sie schob die FüÃe zwischen seine Beine.
»Was machst du hier so früh?« Seine Stimme war rau vom
Schlaf und doch samtweich. Träge streichelte er ihren Rücken.
»Geht es dir heute wieder besser?«
Er erwartete keine Antwort, es war einfach seine Art, ihr zu
sagen, dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte.
»Ich wollte dich nicht wecken«, flüsterte sie, während sie
sich neben ihm entspannte. Sie war müde und verfroren gewesen,
und jetzt, da ihr warm wurde, dachte sie, in seinen Armen
könnte sie vielleicht sogar einschlafen.
Er legte das Kinn auf ihren Kopf. »Hast du nicht«, beruhigte
er sie. »Ich war schon wach.«
Violet seufzte. Es war so schön, hier zu sein. Zum ersten Mal,
seit sie gestern mit Chelsea nach Seattle gefahren war, fühlte sie
sich wieder wohl. Bei Jay fühlte sie sich geborgen und genau das
hatte ihr gefehlt.
Sie machte die Augen zu, die müde waren nach der kurzen
Nacht. Sie atmete tief ein und aus, genoss seinen Duft, und
lieà sich immer weiter in ihn hineinsinken.
Und so schlief sie ein, in Wärme eingehüllt.
In Jay eingehüllt.
Als Violet aufwachte, war sie allein.
Sie lag in Jays Bett, und obwohl er weg war, konnte sie
ihn noch riechen. Sie reckte sich und wartete darauf, dass ihr
Kreislauf in Schwung kam, damit sie aufstehen konnte.
Sie drehte sich auf den Rücken und schaute auf die vertrauten
Risse im Putz an der Decke. Helles Tageslicht wartete hinter den Vorhängen. Violet reckte sich noch einmal und warf dann mit Ãberwindung die Decke von sich.
Als sie nach unten kam, war Jay in der Küche.
»Hey, Dornröschen«, sagte er und schaute von dem uralten
Laptop auf, mit dem er am Küchentisch arbeitete.
Laptop auf, mit dem er am Küchentisch arbeitete.
Jays Mutter hatte viele gute Eigenschaften, aber technisch
war sie völlig unterbelichtet. Sie weigerte sich, im 21. Jahrhundert
anzukommen. Sie war der einzige erwachsene Mensch
ohne Handy, den Violet kannte, und sie wollte kein Geld für
eine schnelle Internetverbindung ausgeben. Also musste Jay
seinen gebrauchten Laptop ans Telefon anschlieÃen und sich
einwählen. Nicht weil sie sich den Luxus nicht hätten leisten
können, sondern weil seine Mutter sich nicht anpassen wollte.
Violet lächelte ihn müde an. »Danke, dass ich ausschlafen
durfte.«
»Ich dachte mir, dass du ganz schön kaputt sein musst.«
»Ja, tut mir leid, dass ich dich so früh geweckt hab. Ich hätte
nach Hause fahren sollen.« Sie schaute ihn schuldbewusst an.
Jay grinste. »Du hast mich nicht geweckt. Deine Mutter hat
mich auf dem Handy angerufen, bevor du kamst. Sie hat gefragt,
ob ich weiÃ, wo du steckst.«
Violet schaute auf die Uhr und erschrak. Es war schon nach
eins. »Oh, Mist! Ich ruf sofort zu Hause an, damit sie weiÃ,
dass ich noch
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