Ruf der verlorenen Seelen
lebe. Die ist bestimmt total durch den Wind.«
»Keine Panik. Als du eingeschlafen warst, hab ich sie angerufen.
Alles okay.« Dann wurde sein Blick ernst. »Und? Wo
warst du?«
Violet biss sich auf die Wange. Sie wollte es ihm eigentlich
nicht erzählen, aber sie konnte auch nicht lügen. Das würde er
sowieso merken.
Sie zuckte mit einer Schulter und tat so, als wäre nichts Besonderes.
»In Seattle.«
Sie sah ihm an, dass er damit am allerwenigsten gerechnet
hatte. »Du bist nach Seattle und wieder zurück gefahren, vor
acht Uhr morgens? Wie spät war es überhaupt, als du hergekommen
bist?«
»Kurz nach halb acht«, gestand sie und biss sich wieder auf
die Wange.
»Stimmt das, Vi?« Er fuhr sich mit der Hand durch das
wirre Haar, ein sicheres Zeichen dafür, dass er allmählich sauer
wurde. »Wieso? Hast du gestern irgendwas vergessen, musstest
du deshalb noch mal zurück?«
Violet nickte halbherzig. »So in der Art.« Sie drehte sich
um, damit sie ihm nicht ins Gesicht schauen musste. Sie nahm
den Kessel vom Herd und füllte ihn mit Wasser.
»Hm, hm«, machte Jay skeptisch. »Und was genau?«
Sie stellte den Kessel auf die Platte, drehte sich um und lehnte
sich an den Herd. Sie musste es ihm wohl oder übel erzählen.
»Ich hab etwas gespürt, Jay. Unten am Fährhafen, als ich gestern
mit Chelsea da war. Deshalb war ich gestern Abend auch so
schlecht drauf.« Sie seufzte. »Ich glaube, ich hab Chelsea einen
Schrecken eingejagt. Sie hatte keine Ahnung, was los war.«
Er schaute sie finster an. »Warum bist du denn dann zurückgefahren?
«
Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger einer Hand die
Schläfen und bedeckte dabei die Augen, damit sie sein besorgtes
Gesicht nicht sehen musste. Obwohl sie lange genug
geschlafen hatte, war sie innerlich unruhig. Und sie wusste,
dass sich das nicht ändern würde, bis der- oder diejenige in der
Stahlkiste gefunden und zur Ruhe gebettet wäre. »Ich hatte einen Traum, und ich musste noch mal hin, um zu sehen, ob da
etwas â oder jemand â ist.«
Dann blickte sie auf. Violet sah, wie sich seine Kiefermuskeln
bewegten. »Ach ja?«, sagte er gepresst. »Und, hast du was
gefunden?«
Violets Wange wurde schon wund, so fest biss sie darauf
herum. »N⦠nein«, stammelte sie. »Ich meine, sozusagen.«
»Verdammt, Violet, was soll das heiÃen?«
»Das soll heiÃen, dass da unten in der Werft jemand in einem
riesigen Container eingesperrt ist. Aber ich konnte nicht ran,
also weià ich es immer noch nicht ganz sicher. Ich meine, nicht
so, dass ich es beweisen könnte.«
Jay sprang vom Stuhl auf, er ertrug es nicht länger. »Willst
du mir erzählen, du bist zum Hafen gefahren, bevor es hell war?
Mitten in der Nacht? Ganz allein?«
Violet musste lächeln. Sie kam nicht dagegen an, ihre Mundwinkel
zogen sich ganz von selbst nach oben. Sie würde sich
nie daran gewöhnen, dass er sich immer Sorgen um sie machte.
»Ja«, sagte sie herausfordernd und ging einen Schritt auf
ihn zu. »So ähnlich.« Sie legte die Hände auf seine Brust und
spürte, wie sein Herz raste. »Alles okay bei dir? Musst du dich
mal hinsetzen? Soll ich dir einen Tee machen?«
»Mensch, Violet, das ist nicht witzig. Wenn du solche Sachen
machst, forderst du das Glück heraus.«
Sie lieà die Hände sinken und kniff die Augen zusammen.
» Solche Sachen , Jay? Was für Sachen meinst du? Ich mache
nie solche Sachen . Und ich wollte ja auch gar nicht fahren, ich
konnte einfach nicht anders.« Jetzt lächelte sie nicht mehr.
Jay atmete geräuschvoll aus. »Du hättest mich anrufen sollen.
Ich wär doch mitgekommen, das weiÃt du genau.«
Der Teekessel hinter ihr fing an zu pfeifen. »Ich weië, sagte
sie. »Aber du hättest es meinen Eltern erzählt. Oder meinem
Onkel. Und ich wollte nicht, dass sie davon erfahren. Bitte sag
es ihnen nicht.« Wasserdampf pfiff durch die Flöte des Kessels.
Violet drehte sich um und schob ihn von der Platte.
Sie goss heiÃes Wasser in einen Becher und lieà Jay Zeit,
über ihre Bitte nachzudenken.
Vor dem Ball, bevor sie ein Paar waren, hätte er gar nicht
darüber nachdenken müssen. Damals hätte er sie nie verraten.
Sie behielten die Geheimnisse des anderen für sich, ganz egal,
worum es ging.
Aber jetzt war alles, wirklich
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