Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
war.
„C’est incroyable! Unglaublich. Du schreist ja gar nicht.“
„Es gibt nicht viele, die sich mitten in der Nacht unbemerkt in mein Zimmer schleichen und mich an der Kehle packen. Eigentlich bist du der Einzige, der mir da einfällt, also warum sollte ich schreien?“
„Es hätte auch Lemain sein können.“ Seine Stimme klang bitter.
„Ja, das wäre möglich gewesen. Aber erstens ist er nicht mehr hier. Und zweitens hätte der Schrei mir dann noch weniger geholfen, meinst du nicht?“
Er blieb mir die Antwort schuldig, lächelte mich nur mit einem verschwörerischen Glühen in den Augen an. „Bist du reisefertig, ma chère?“
„Wenn du mir sagst, wohin es geht.“
„Ich sagte doch, das wird eine Überraschung. Du wirst schon sehen.“
Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern packte mich und war mit mir aus dem Fenster und übers Dach geflogen, ehe ich noch einmal Luft holen konnte. Wir erhoben uns hoch in die Lüfte und rasten mit der mir schon vertrauten, aber noch immer unheimlichen Geschwindigkeit dahin. Ich hatte hier oben nicht die geringste Orientierung, wusste nur, dass wir uns nach Osten bewegten. In tiefere Nacht. Als unsere Reisegeschwindigkeit sich verringerte, konnte ich unter uns unzählige Lichter erkennen. Und Schiffe. Und das Meer. Wir mussten über einer Hafenstadt sein. Armand glitt tiefer hinab, bis nach und nach Musik und Stimmengewirr an mein Ohr drangen.
„Alors, mon amour, hast du nun eine Ahnung, wo wir sind?“
Ich blickte ihn überrascht, aber voller Freude an. „Wir sind in Venedig. Du hast mich zum Karneval gebracht.“
Er nickte lächelnd. Es würde mich aufmuntern, meinte er. Ich müsse mich nur einfach mitreißen lassen. Wir landeten auf der Piazza San Marco. Um uns herum jede Menge Menschen. Und noch mehr Tauben. Doch beide schienen unser unorthodoxes Auftauchen nicht bemerkt zu haben. Schon als Kind hatte ich vom Karneval in Venedig geträumt. Von den herrlichen Kostümen, den geheimnisvollen Masken. Es war eine andere, eine fantastische Welt. Unwirklich, aber herrlich lebendig. Jetzt stand ich mitten in dieser Welt. Ich war umgeben von schillernden Figuren, von Männern und Frauen in bunten, seidenen Kleidern, deren Geschlechter man kaum zu unterscheiden vermochte. Federbüsche auf den Köpfen, Gold und Silber in den Haaren. Überall Masken. Kunstvoll verzierte Masken in allen erdenklichen Farben. Eine Prinzessin in roter Robe, ein Kleid aus Seide über einem üppigen Reifrock, stieß mit mir zusammen. Sie legte den Kopf zur Seite, als mustere sie mich neugierig. Bernsteinaugen blickten durch die Schlitze der rot-weiß-silbernen Maske. Einen Augenblick war ich versucht, meine Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Einfach, damit ich mich überzeugen konnte, dass ich all das nicht nur träumte. Doch da warf sie schon den Kopf in den Nacken und lachte voller Übermut, ehe sie sich wieder in die tanzende Menge einreihte und weiterzog. Eine Hand berührte sanft meinen Arm.
„Melissa?“
Es war Armand. Ich drehte mich um und sah ihn an, als sähe ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben. Für einen kurzen Augenblick, einen Herzschlag nur, war da eine Erinnerung. Als hätten wir schon einmal so voreinander gestanden. In einem anderen Leben. Einer anderen Zeit. Ganz schwach, aber doch lebendig, kroch dieses Bild herauf. In ihm, in mir. Und schon vorbei. Er nahm meine Hand, führte sie an seine Lippen und drückte einen kühlen Kuss darauf.
„Komm, chérie! Venedig wartet auf uns. Aber zuerst brauchen wir die passende Kleidung.“
Er hatte Recht. Wir waren die Fremdkörper in dieser schillernden Menge. Er mit seinem unscheinbaren schwarzen Anzug und dem weißen Hemd. Ich in meiner verwaschenen Jeans und dem dicken Wollpullover. Armand fand ein Geschäft, in dem jede Menge prunkvolle Kostüme auslagen. Das La Venexiana in der Ponte Canonica. Es hatte geschlossen, aber für seine übersinnlichen Kräfte war es ein leichtes, die Alarmanlage auszuschalten und das Sicherheitsschloss an der Hintertür zu knacken.
„Such dir das schönste Kostüm aus, mon cœur! Du bist meine Königin, und genauso sollst du auch aussehen.“
Mir blutete das Herz bei diesen Worten. Dass ich ihm soviel bedeutete schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte kaum sprechen vor Glück. Aber mein Herzkönig lächelte nur. Das Weiß seiner Augen fluoreszierte in den dunklen Schatten des Kostümverleihs und verlieh ihm ein dämonisches Aussehen. Er begann selbst nach einem
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