Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
sah ich das weite Meer und den Nachthimmel, erleuchtet von Millionen von Sternen.
Das Schicksal trug eine Kapuze über dem Kopf, als wollte es nicht sehen, wohin ich ging. Wollte mich nicht durch seine Augen sehen lassen. Aber ich wollte unbedingt wissen, was mein Schicksal war. Das Jahresrad lag offen. Jetzt galt es, meiner Schicksalskarte ins Gesicht zu sehen.
Ich schloss die Augen, während ich meine Finger ausstreckte, um die Karte in der Mitte umzudrehen. Als ich sie berührte, wusste ich, welches Bild sie trug, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben. Ich zog meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt. Mit angstgeweiteten Augen schaute ich zu, wie Grandma die Karte langsam umdrehte. Es war – der Tod.
Mir war eiskalt, ich zitterte am ganzen Leib. Der Tod – Armand. Normalerweise stand diese Karte lediglich für tiefgreifende Veränderungen und war nicht unbedingt negativ. Im Grunde passte sie sogar sehr gut zu den übrigen Karten, die mein Jahresrad darstellten. Alles deutete auf große Veränderungen und neue Orientierungen hin. In jeder Hinsicht. Doch ich hatte nur diesen einen Gedanken. Von dem Vampir und dem sehr reellen Tod, den er brachte. Ich konnte kaum atmen. Plötzlich packte mich jemand grob an den Armen und schüttelte mich.
„Dummes Kind! Ich habe dir doch gesagt, lass es sein! Das kommt davon, wenn man nicht hören will. Wenn du keinen Respekt vor den Karten hast, zeigen sie dir statt der Wahrheit nur Abgründe. Nichts ist davon wahr. Hast du gehört? Nichts von dem, was dort auf dem Tisch liegt, ist wahr.“
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es Grandma war, die da auf mich einredete. Ich schaute sie an wie eine Fremde. Begegnete ihrem Blick, der voller Sorge in dem meinen etwas zu suchen schien. Dann hellte ihre Miene sich wieder auf. Sie strich mir lächelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Auf meiner Stirn standen Schweißperlen.
„Magie ist nichts für schwache Seelen. Sie ist sehr rachsüchtig, wenn man sie nicht achtet. Du hast dich zu weit vorgewagt, und ich habe dich nicht davon abgehalten. Es tut mir Leid, Melissa.“
Sie meinte es ehrlich. Ich wollte ihren Worten Glauben schenken. Weil ich es nicht ertragen hätte, wenn das, was ich glaubte in den Karten gesehen zu haben, der Wahrheit entspräche.
Der Wahrheit dunkler Kern
Blut, überall Blut. Schreie, Feuer, Rauch. Der Rauch brennt in meinen Augen, und ich versuche sie mit der Hand zu schützen. Ein Dolch, eine scharfe Klinge. Sie schneidet durch die Luft, dann durch Fleisch. Blut, immer nur Blut. Und Flammen, die an menschlicher Haut lecken. Ein Gesicht – so fremd, so vertraut. Eine zarte Stimme, die meinen Namen flüstert
.
„Und du darfst es nie vergessen. Was sie auch tun.“
Dann brechen die Augen, kein Glanz mehr. Aber auch kein Schmerz. Ewiger Schlaf, süßes Vergessen
.
„Mama!“
Ich erwachte von meinem eigenen Schrei. Schweißgebadet, mit rasendem Puls. Diesmal war ich ganz sicher, dass ich im Schlaf ‚Mama’ gerufen hatte. Aber wer war diese Frau? Ich kannte sie, und doch wieder nicht. Wer war das Kind, in das meine Seele eingedrungen war? Das nach seiner Mutter schrie, deren Blick im Flammenmeer erstarb?
Ich war noch zu müde, der Schlaf umfing mich von neuem. Und diesmal traumlos.
Grandma hatte mich in ihre Bibliothek verfrachtet, weil sie Besorgungen in London machen wollte. Ich brütete den ganzen Tag über den verstaubten Wälzern und langweilte mich. Irgendwann im Laufe des späten Nachmittags fasste ich schließlich den Entschluss, mir meine eigene Lektüre auszusuchen. Ich hatte schon längst mehr über Vampire erfahren wollen. Wann würde sich eine bessere Gelegenheit bieten als jetzt?
Großmutters Bibliothek war gut ausgestattet. An drei Wänden des Zimmers befanden sich Bücherregale bis unter die Decke. Die oberen konnte man nur mit Hilfe eines Schemels erreichen. Leider fand ich nur zwei Vampirbücher. Eines, an dem der Zahn der Zeit bereits arg genagt hatte und ein handschriftliches Manuskript, das ganz offensichtlich neueren Datums war, als das andere.
Ich legte die Bücher zunächst beiseite und ging in die Küche, um mir Tee aufzusetzen und ein paar Käsesandwichs zu machen. Die Sandwichs waren schnell fertig. Bis das Teewasser kochte, wollte ich mich in Grandmas Heiligtum umsehen. Dabei kam ich mir vor wie ein ungezogenes Kind, weil ich es wagte, allein ihre „Hexenküche“ zu betreten. Ohne Grandma machte der Raum mir Angst. Er wirkte dunkel, trotz der
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