Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
Eulen rief über mir die Nacht herbei. Jagdzeit. Für diese Vögel und für die Hohepriesterin. So still wie der Wald vor einigen Tagen gewesen war, war er jetzt erfüllt von Geräuschen, die ich nicht einordnen konnte. Die mir Angst machten. Ein Knacken hier, ein Rascheln da, spitze Schreie von Tieren, deren Art ich nicht benennen konnte. Etwas streifte über mein Gesicht. Ich schrie auf. Es war nur ein Zweig. Panisch kämpfte ich mich weiter, versuchte, meinen Weg zurück zum Haus zu finden. Wenn ich ganz leise war, konnte ich mich daran vorbeischleichen und zur Straße rennen. Es würden sicher noch einige Autos fahren. Jemand würde mich mitnehmen. Aber wann immer ich glaubte, dem Waldrand näher zu kommen, stand ich vor einem undurchdringlichen Dickicht aus Ästen, Zweigen und Ranken. Der Wald ließ mich nicht entkommen.
Fackeln leuchteten an mehreren Stellen auf. Ihr Licht schimmerte gespenstisch auf den glatten Stämmen. Sie suchte nach mir. Sie und einige ihrer Priesterinnen. In die andere Richtung. Weg von meinen Verfolgern. Ich rannte, ohne auf die Äste und Dornen zu achten, die mir Gesicht und Hände zerkratzten. Immer wieder verfingen sich meine Füße in herausstehenden Wurzeln und Schlingpflanzen. Der Wald jagte auf seine eigene Weise.
Plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Fackel direkt vor meinem Gesicht auf. Blendete mich mit ihrem hellen Schein. Der Schrei blieb mir in der Kehle stecken, während ich zu Boden fiel. Jemand packte mich grob und drehte mich um. Margret Crest. Ihr Gesicht eine wutverzerrte Maske. Das Déjà-Vu setzte so heftig ein, dass sich alles um mich drehte.
„Kleine Närrin! Dachtest du, du könntest in meinem Wald Zuflucht finden? Bylden Wood gehört mir. Alles hier gehört mir. Die Bäume und die Tiere. Sie werden dich nicht schützen. Sie kennen und fürchten meine Macht.“
Weitere Fackeln näherten sich. Fremde Frauen im Halbdunkel des Waldes, die ich nie zuvor gesehen hatte. In roten Roben. Mit magischen Amuletten um die Hälse.
„Packt sie und bringt sie zur Hütte. Immer zwei zu ihrer Bewachung. Tag und Nacht“, befahl Margret ihnen. Und an mich gewandt. „Deine eigene Schuld, dass du deine Nase nicht aus Dingen heraushalten kannst, die dich nichts angehen. Jetzt wirst du den gleichen Weg nehmen wie deine verfluchte Mutter und ihre Dämonen-Geliebte. Der Scheiterhaufen wartet auf dich beim nächsten Neumond.“
Margret kam nicht wieder. Neumond lag nur zehn Tage entfernt. Ich konnte meine Lebenszeit wie Sand in einem Stundenglas dahinrieseln sehen. Durch das Fenster meines Gefängnisses, eine Blockhütte irgendwo in diesem unwirklichen Wald, sah ich, wie mehrere Priesterinnen einen halben Tag damit zubrachten, Holz aufzuschichten. Ein Scheiterhaufen. Mein Scheiterhaufen.
Meine Angst trieb mich in den Wahnsinn. Es war weniger die Angst vor dem Sterben an sich. Mehr die Angst vor dem ‚Wie’. Vor den Schmerzen, die mit den Flammen kommen würden. Ein langsamer, qualvoller Tod. Und ich hatte Angst, weil sie zusehen würden. Magische Beschwörungsformeln murmelnd, deren Auswirkungen ich mir erst gar nicht vorstellen wollte.
Nachts wurde es eiskalt. Die dünne Decke wärmte mich kaum. Einen Ofen gab es nicht. Nur eine harte Holzbank und einen kleinen Tisch. Dreimal am Tag schob man mir etwas zu essen und eine Flasche Mineralwasser durch eine kleine Klappe in der Tür. Eine Kanne mit heißem Tee wäre mir lieber gewesen. Niemand sprach ein Wort. Hinter einem mottenzerfressenen Vorhang hatte ich eine Art Toilette gefunden. Wenn man solch einem Ding diese Bezeichnung überhaupt zukommen lassen wollte. Aber es genügte, um meine Notdurft zu verrichten, auch wenn es mich jedes Mal vor Ekel schauderte.
Am fünften Tag meiner Haft öffnete sich die Tür. Eine der Frauen brachte einen Eimer mit warmen Wasser, ein Handtuch, einen Waschlappen, etwas Seife und – kaum zu glauben – frische Kleider. Ich wollte mich dafür bedanken, aber der Blick aus ihren Augen war so kalt und hasserfüllt, dass mir die Worte in der Kehle stecken blieben.
Ich hoffte nicht auf Rettung. Wer hätte mich denn retten sollen? Die Göttin selbst? So wichtig war ich nicht. Dieser Vampir – Armand? Wir kannten einander kaum. Was sollte ihm mein Leben schon bedeuten? Sonst gab es niemanden. Mir wurde erst jetzt bewusst, wie einsam ich in Wirklichkeit war. Ich begann, mich in das unvermeidliche Schicksal zu fügen. Betete nur noch, dass der Neumond bald kommen würde, damit diese
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