Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
beiden großen Fenster. Die vielen Tierschädel an der hinteren Wand schienen mich alle vorwurfsvoll anzublicken. Großmutter sagte immer, es seien Tiere, die sie tot im Wald gefunden hatte. Sie beerdigte die Körper, behielt die Schädel aber, um sie – gründlich gesäubert – hier aufzuhängen. So könnten die Seelen der Tiere zwar Frieden finden, wären aber jederzeit als Helfer bei magischen Handlungen für sie anrufbar. Ich war noch nie dabei gewesen, wenn sie die Schädel von Fell und Fleisch befreite, bis nur noch der glatte, bleiche Knochen übrig blieb. Und ich wollte auch lieber nicht wissen, wie sie es schaffte, sie so makellos zu machen. Allein die Vorstellung jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Ich glaube nicht, dass ihr wirklich Frieden habt“, sagte ich mitleidig an die vielen Totenschädel gewandt. In der einen oder anderen Augenhöhle schien für Sekundenbruchteile ein Licht aufzublitzen. Ich verdrängte den Eindruck schnell wieder und ging zu dem Regal mit den Zauberzutaten. Hier lagerten alle möglichen Kräuter, Edelsteine, Gefäße, Öle und dergleichen. Und auch einige andere Dinge, die ich mir lieber nicht genauer ansehen wollte.
Die Ritualwaffen – Dolch, Schwert, Stab, Kelch und Pentakel – lagen sauber und ordentlich nebeneinander auf einer Art Anrichte. Ebenso eine Athame und eine Bioline, die beiden magischen Hexenmesser. Großmutter lud sie bei jedem Neumond mit einem starken Magneten neu auf. Ich strich mit den Fingern über das kalte Metall. Die Schneiden waren alle scharf poliert. Fast wie chirurgische Instrumente. Mich erfasste plötzlich ein eisiger Schauer, und ich musste an meinen Traum von letzter Nacht denken. War es nicht ein solcher Dolch gewesen, wie meine Großmutter ihn hier aufbewahrte, der dieser Frau die Kehle durchgeschnitten hatte?
Ein schrilles Schreien rief den Traum wieder allzu deutlich herbei. Es gellte in meinen Ohren, ließ mein Blut zu Eis erstarren. Ich verließ fluchtartig den Raum, schlug die Tür hinter mir zu, und lehnte mich gegen das massive Holz; mit rasendem Atem und pochendem Herzen. Doch das Schreien hörte nicht auf. Endlich begriff ich, dass es der Wasserkessel war. Zitternd lief ich in die Küche, goss mir eine Kanne Tee auf und ging zurück in die Bibliothek. Das hat man eben davon, wenn man unerlaubt herumschnüffelt, schalt ich mich selbst.
Der heiße Tee vertrieb die Kälte aus meinen Gliedern. So gestärkt griff ich nach dem alten Vampirbuch. Es war verstaubt und brüchig, ich musste sehr vorsichtig blättern, damit die Seiten nicht auseinander fielen. Was hier stand, glich der landläufigen Meinung und dem wenigen, was Großmutter mir als Kind erzählt hatte. Grässlich entstellte Wesen mit langen Fangzähnen, die vorzugsweise Jungfrauen und kleine Kinder töteten. Untote, die aus ihren Gräbern aufstanden, weil sie keinen Frieden fanden. Von Verwesung gezeichnet und mit dem Geruch des Todes behaftet. Weihwasser verbrannte sie, Knoblauch vertrieb sie, und ein Pfahl durchs Herz war ebenso wie Feuer oder Sonnenlicht ihr endgültiger Tod. Neben Knoblauch wurden alle möglichen christlichen Utensilien genannt, um sie fernzuhalten: Kruzifixe, Rosenkränze, die Kelche des Abendmahls, Heiligenbilder oder auch schon das Aufsagen des Vaterunsers. Es waren einige laienhafte Zeichnungen dazwischen.
All diese Geschöpfe hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit Armand. Was dort geschrieben stand, hatte er inzwischen hinreichend widerlegt. Angefangen von seiner Geruchlosigkeit über sein Spiegelbild bis hin zu der Tatsache, dass mir ein silbernes Kruzifix aufgefallen war, das er trug.
Schnaubend und enttäuscht legte ich das Buch zur Seite. Nichts als bäuerlicher Aberglaube. Ich blickte auf das handgeschriebene Manuskript. Ob hier wohl der gleiche Unfug stand? Entschlossen nahm ich es in die Hand. Ein sanftes Vibrieren kroch meinen Arm hinauf. Merkwürdig. Die Luft zitterte, wie von Erwartung erfüllt. Was ging hier vor? Auf der ersten Seite stand
Dem Coven der Roten Priesterinnen
und darunter in der geschwungenen Schrift meiner Großmutter
von Margret Crest
. Meine Großmutter hatte dieses Manuskript selbst verfasst. Und ganz unten stand auch ein Datum:
30. April 1977
. Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
Damals war ich zwei Jahre alt gewesen. Ich blätterte weiter. Mit jeder Zeile, die ich las, wurde Ahnung mehr und mehr zu grausamer Gewissheit. Öffnete sich eine lang verschlossene Tür in meiner Seele und enthüllte
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