Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
Verstand verloren, so eine Frage überhaupt zu stellen. Ich schämte mich in Grund und Boden. Carl war der Vater des Mutterhauses gewesen. Und verheiratet. So wenig ich auch über diesen Mann wusste, sein Ruf war auf alle Fälle tadellos. Ich biss mir auf die Zunge. Wie hatte ich nur auf so eine Idee kommen können?
Ich verfiel wieder in Schweigen. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Aber ich hatte nicht die Kraft, den Knoten zu entwirren. Vermutlich war es auch besser, wenn ich es erst gar nicht versuchte. Das ersparte mir weitere Peinlichkeiten. Nur noch ein paar Stunden. Ich wollte mich nicht mit diesen Dingen belasten. Sehnsüchtig dachte ich an Armand.
„Es ist alles meine Schuld“, sagte George plötzlich. „Ich hätte spüren müssen, wie stark der Vampir ist. Doch ich bin einfach nicht mehr so sensitiv wie früher. Wenn wir sterben, ist es meine Schuld.“
Er wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Bitte nicht. Keine Panik jetzt. Wenn er Panik bekam, würde ich sie auch bekommen, und das würde ich nicht überleben.
„George, geh nicht so hart mit dir ins Gericht! Ich trage viel mehr Schuld daran als du. Ich habe es ganz bewusst ignoriert. Aus purem Egoismus. Ich muss dich um Verzeihung bitten. Ich hätte dir sagen müssen, was ich gefühlt habe. Ich hätte dir sagen müssen, dass ich gestern morgen das Gefühl hatte, jemand war in meinem Zimmer. Wenn ich nur nicht so stolz gewesen wäre!“
Ich sprach nicht weiter, sondern kroch zu George hinüber und wir hielten uns im Arm, gaben uns gegenseitig Trost. Vorwürfe oder Selbstvorwürfe – das nutzte alles nichts. Wir mussten warten. Und hoffen. Und vielleicht auch beten.
Nach einer Ewigkeit erwachten unsere beiden Gastgeber endlich. Lemain schaute zu uns herüber. Sein Blick heftete sich gierig auf mich. Ich rechnete damit, dass er seinen Hunger an Ort und Stelle stillte, doch dann entfernte er sich in die entgegengesetzte Richtung. Sophie folgte ihm. Wir hörten, wie Stein auf Stein schabte. Dann war alles wieder totenstill. Erleichtert atmeten wir auf. Sie gingen auf die Jagd. Demnach waren wir zunächst noch nicht als Mahlzeit vorgesehen. Und das schabende Geräusch erklärte auch, warum George die Kammer bei unserem letzten Besuch nicht gefunden hatte.
Die erste Freude über den Jagdausflug unserer Gastgeber verflog schnell. Bedeutete es doch schließlich auch, dass wir weiterhin im Ungewissen warten mussten. Am meisten quälte mich, dass alles, was Lemain mir über sich und Armand erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Ob er Lemain wirklich geliebt hatte? Mein stolzer Armand, einem anderen hörig. Einem Wesen wie Lemain. Ich konnte gut verstehen, dass er das nicht ertragen hatte. Er war selbst so stark und dominant. Wenn ich daran dachte, wie leicht er mich manipuliert hatte … Ein Schauer der Erregung durchfuhr mich, gefolgt von einem Schauer der Abscheu, als sich die Bilder der vergangenen Nacht wieder aufdrängten. Lemain hatte mich noch viel einfacher manipulieren können. Wäre Sophie nicht dazwischengekommen, hätte er mit mir geschlafen und vielleicht wäre ich jetzt sogar schon selbst ein Vampir oder tot.
George seufzte. „Ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat, bevor er zur Jagd aufgebrochen ist. Er hätte viel lieber hier gejagt. Willst du mir nicht erzählen, was während meines Blackouts geschehen ist?“
Er machte sich Vorwürfe; und Sorgen um mich. Dabei schwebte er in viel größerer Gefahr. Lemain würde mich nicht töten, da er sich sonst selbst um seine Rache brachte. Aber das konnte George nicht wissen. Das Schlimmste, was mir im Moment geschehen konnte war, gegen meinen Willen ein Vampir zu werden. Und in unserer derzeitigen Lage gab es weitaus Schlimmeres.
„Bis jetzt ist gar nichts geschehen“, log ich. „Wir haben uns unterhalten. Und dann ist Sophie gekommen und hat mich nach hier unten gebracht. Mehr weiß ich auch nicht.“
George schien nicht überzeugt von meinen Worten, aber er gab sich damit zufrieden.
Als Lemain und Sophie endlich zurückkamen, hatte ich mir einen Plan zurecht gelegt. Da ich meiner Meinung nach weitestgehend außer Gefahr war – jedenfalls, was mein Leben anging – schien es mir erst mal wichtig, George aus der Situation zu befreien. Dass Lemain ihn nur ungern würde gehen lassen, war mir klar, aber ich musste es versuchen. Möglicherweise lag ihm genug an seiner Rache an Armand, dass er George gehen ließ, wenn ich mich ihm als Pfand anbot. Freiwillig. Eine
Weitere Kostenlose Bücher