Ruf des Blutes 5 - Erbin der Nacht (German Edition)
nur nicht sterben musste.
Mit beklemmendem Gefühl im Magen drehte er sich zum Spiegel am Wandschrank um. Übelkeit kroch hoch, der Schmerz aus seiner Erinnerung war greifbar – so real, als läge er immer noch sterbend im Dreck. Sein Spiegelbild verschwamm, als er seine Maskerade aufgab und für einen Augenblick seine wahre Gestalt annahm, die nichts mehr von ihrem einstigen Wesen besaß. Er war nie wirklich schön gewesen. Das spielte für ein Geschöpf, das sein Äußeres nach Belieben ändern konnte, auch keine Rolle. Doch es war vor Kalistes Versuch ihn zu töten, nie so unerlässlich gewesen wie jetzt, dass er sich tarnte und ein fremdes Antlitz trug. Wer konnte das noch ertragen, wenn er selbst kaum länger als einen Herzschlag hinsehen wollte?
Sein rechtes Auge wirkte verschoben und saß zu tief im Gesicht. Die Lippen waren gespalten, der Kiefer grotesk verbogen. Die Finger an seiner rechten Hand standen seitlich ab, der Ellenbogen war nach innen verdreht. Doch am meisten quälte ihn der Anblick seines Leibes. Er schob mit zitternden Fingern das Hemd nach oben und starrte auf die wulstigen Narben, den eingedrückten Brustkorb und die spitz hervortretenden Knochen seines Rippenbogens. In seinen Augen brannten Tränen. Entstellt. Auf ewig ein Krüppel. Daran war Melissa Ravenwood Schuld. Und Kaliste. Doch vor allem Melissa. Sie trieb mit allen ein falsches Spiel, verriet die Menschen ebenso wie die Kinderder Nacht. Nur ihr eigenes Glück im Blick – ihre Erhebung über alle anderen, wenn sie wieder einmal die Welt gerettet hatte.
Neben seinem Aussehen hatte dieses Miststück ihn auch noch um das letzte bisschen Stolz und Selbstachtung gebracht, das er besaß. Er war ein ebensolcher Verräter wie seine größte Feindin. So war das Leben. Es gab nichts umsonst, alles hatte seinen Preis. In seinem Fall kostete ihn sein Überleben nicht mehr und nicht weniger als seine Überzeugungen. Loyalität konnte man sich nicht leisten, wenn man vor der Wahl stand, draufzugehen oder sich selbst treu zu bleiben.
Cyron konzentrierte sich wieder und nahm die Gestalt des Buchhalters an, schlenderte zum Fenster und blickte auf die Straße. Er hatte die beiden Sangui gleich bemerkt. Man traute ihm nicht, rechnete damit, dass er türmte. Mit dem Gedanken gespielt hatte er. Die beiden Typen wirkten gelangweilt. Der eine biss in einen Hamburger, der andere rauchte. Sie behielten das Hotel und die umliegenden Straßen im Blick.
Er ließ die Gardine fallen und schaltete den Fernseher an, zappte durch die Kanäle. Pay-TV war gesperrt. Hätte ihn auch gewundert, wenn seine Gastgeber so großzügig gewesen wären. Vielleicht konnte er sich die Stadt ansehen und sein Schutzkommando schlich ihm nur hinterher. Es konnte auch sein, dass sie ihn sofort wieder auf sein Zimmer schickten wie einen ungezogenen kleinen Jungen. Das sollten sie mal versuchen. Er ließ sich nicht einsperren wie ein Verbrecher. Wer tat denn hier wem einen Gefallen?
Der Entschluss war gefasst, dieses Hotel verfügte bestimmt auch über einen Hinterausgang, an dem mit etwas Glück keine Wache postiert war. Er spähte in den Flur, keine Menschenseele zu sehen. Leichter als gedacht. Die Feuerleiter war ihm zu dramatisch, da bot der Lift in den Keller mehr Bequemlichkeit. Das Hotel besaß eine Tiefgarage mit separater Ein- und Ausgangstür. Perfekt!
Cyron war versucht, ein fröhliches Liedchen zu pfeifen, dass er seine Bewacher so einfach austrickste, doch als er die Tür der Garage öffnete, zuckte ein greller Blitz vor ihm. Im ersten Moment glaubte er an eine Überwachungskamera, durch den direkt folgenden Knall korrigierte er in Blendgranate. Die Erinnerung an den Anschlag im Leonardo’s lebte wieder auf – war da etwa doch jemand gezielt hinter ihm her? Er schützte seine Augen und rannte los, keine Sekunde zu früh, denn direkt neben ihm schlug eine Kugel in den Betonpfeiler der Auffahrt ein. Funken stoben, Splitter flogen umher. Er nahm die Arme wieder runter und sprang hinter den nächsten Pfeiler, sah zurück, konnte aber niemanden entdecken. Dafür hörte er Schritte, die rasch näherkamen. Shit! Jetzt die Gestalt zu wechseln würde zu lange dauern, der Hall des Garagenvorplatzes verzerrte die Geräusche und machte es schwer, abzuschätzen, wie lange es dauerte, bis sein Verfolger in Reichweite wäre. Was blieb ihm übrig, als alles auf eine Karte zu setzen? Wenn er hier stehen blieb, bot er eine ideale Zielscheibe. Geduckt rannte er zum nächsten
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