Ruf ins Jenseits
Schlüssel und die Pistole (ein Schuss löste sich, so sagte ich ihm, als ich sie auf meinem Weg hinaus fallen ließ), und innerhalb von zwanzig Minuten war ich in einem Zimmer im Woodbridge Arms einquartiert. Dort las ich Nells Tagebuch wieder und wieder, bis ich irgendwann in einen dumpfen, bildreichen Schlaf versank, trat immer wieder auf die Rüstung zu in dem Wissen, was folgen würde, außerstande, den Griffnach dem Hebel zu unterlassen. Erst am nächsten Morgen, als ich am Fenster saß und das graue Wasser an der Tide Mill vorbeiziehen sah, kam es mir in den Sinn, dass die Asche in der Rüstung ja auch Nells sein konnte. Magnus’ Brief konnte mit der Intention geschrieben worden sein, uns beide an den Galgen zu bringen; er konnte ebenso in vollkommener Aufrichtigkeit geschrieben worden sein, nur dass im Verlauf der Ereignisse Nell, nicht Magnus starb.
Meine Pflicht war klar: Ich musste das Päckchen umgehend aushändigen. Es war noch nicht zu spät, um vorzugeben, dass ich es, erschüttert, wie ich war, vergessen hatte. Auch das Brechen des Siegels konnte ich meiner Aufregung zuschreiben. Allerdings würde mir niemand glauben, wenn ich Roper davon überzeugen wollte, dass die Asche von Nell stammte; ich würde nur den Strick um meinen Hals enger ziehen.
Zurück in Aldeburgh, erwartete ich die gerichtliche Untersuchung – sie verschob sich um einige Tage, um Experten aus London zur Untersuchung vor Ort die nötige Zeit zu geben –, als handele es sich um ein Verfahren, bei dem ich des Mordes angeklagt war. Bolton würde bestimmt vernommen werden, und seine Aussage allein würde mich verdammen. Ich wusste, ich sollte das Päckchen verbrennen, aber jedes Mal, wenn ich die Streichhölzer zur Hand nahm, stellte ich mir Polizisten vor, die zu mir hereinstürmten. Auch nahm ich mindestens ein Dutzend Mal all meinen Mut zusammen, um Roper alles zu gestehen. Aber letzten Endes tat ich, wie ein Mensch, der in einem Albtraum gefangen ist, nichts anderes, als endlos in meinem Arbeitszimmer zu Hause auf und ab zu gehen – die Kanzlei konnte ich nicht ertragen –, während sich das Netz um mich herum enger zog.
Mit diesen Gedanken war ich am Tag vor Beginn der gerichtlichen Untersuchung in Woodbridge beschäftigt, als meine Haushälterin klopfte und sagte, ein Mr Bolton wolle mich sprechen.
«Führen Sie ihn ins Esszimmer», sagte ich und versuchte die nächsten Minuten vergebens, mich zu beruhigen. Er hatte sich auf das Sofa gesetzt, als ich hereinkam. Seine Kleidung glich der von Magnus: schwarzer Anzug, weiße Halsbinde, Zylinder und Handschuhe. Der Ausdruck auf seinem blassen, hageren Gesicht war respektvoll; doch obgleich er sich erhob und verbeugte, als ich hereinkam, war klar, wer hier das Sagen hatte.
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr Montague, dass Sie mich empfangen. Ich bin hier wegen der Untersuchung.»
«Äh, ja», sagte ich und schluckte. «Der Tod Ihres Herrn war ein Schock – wie es für Sie alle einer war.»
«In der Tat, Sir. Und Sie verstehen sicherlich, dass wir uns alle fragen, was aus uns wird. Wenn ich so frei sein darf zu fragen: Sie wissen nicht zufällig, ob der Herr irgendetwas für mich vorgesehen hat?»
«Leider nein», sagte ich. «Sein Testament ist bei Mr Veitch in London, und Sie werden verstehen, dass nichts getan werden kann, ehe der Coroner die Ergebnisse seiner Untersuchung des Todesfalls verkündet hat.»
«Ich verstehe, Sir.»
Wir saßen schweigend. Trotz der Kälte spürte ich, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat.
«Hmh – kann ich sonst etwas für Sie tun?», fragte ich.
«Nun ja, Sir, in der Tat können Sie etwas für mich tun. Wissen Sie, Sir – nicht, dass ich Grund zur Klage hätte über die Anstellung bei Doktor Wraxford – aber mein Ehrgeiz liegt in der Fotografie. Ich würde gerne ein eigenes Geschäft eröffnen … Aber natürlich mangelt es mir an Kapital, und da kam mir in den Sinn, Sir – Sie als alter Freund der Familie –, ob Sie nicht einen Weg wissen, mir ein Darlehen zu geben.»
«Ich verstehe. Hm, an welche Summe dachten Sie denn?», fügte ich allzu schnell hinzu.
«Zweihundertfünfzig Pfund, Sir, würden mir einen guten Start erlauben.»
«Ich verstehe. Und – für welchen Zeitraum?»
«Schwer zu sagen, Sir. Vielleicht können wir das – als informelle Abmachung offenlassen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.»
«Einverstanden», sagte ich und tupfte mir die Stirn.
«Danke, Sir, ich bin Ihnen sehr
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