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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Macht zurück. Es war schön und gut, mir zu sagen, dass ich im Zeitalter der Dampfmaschine und des Telegraphen lebte, dass die Wissenschaft diese Schrecken gebannt hatte: Hier war es, als wäre man tausend Meilen von der Zivilisation entfernt.
    Die Eingangstür war von innen verriegelt, aber ich fand eine kleinere Tür, unweit der Steinbank, auf der ich mit Nell gesessen hatte, die mich in einen unbekannten Teil des Gebäudes führte. Ich nahm einen Kerzenstummel aus einem geschwärzten Glaszylinder und machte mich auf den Weg durch die Düsternis zur großen Halle und die Treppen hinauf zum ersten Treppenabsatz, wo ich in die Stille lauschte.
    Das Arbeitszimmer war abgeschlossen, aber nicht von innen.Cornelius’ Feldbett und der Wäscheständer waren verschwunden; ein Ledersessel stand vor dem Schreibtisch. An den Wänden standen Bücherreihen, aber auf dem Tisch selbst lag nichts; nur der beißende Geruch von Büchern, die zu viele Winter unberührt gestanden hatten, lag in der Luft. Das einzige Zeichen einer kürzlichen Benutzung des Raumes war ein Paletot, den ich als Magnus’ erkannte, am Haken hinter der Tür, die ich gerade geöffnet hatte.
    In der rechten Tasche war ein rechteckiges Päckchen, versiegelt mit Magnus’ Phönix-Siegel. In seiner Handschrift stand die Adresse darauf: Mr   Jabez Veitch von Veitch, Oldcastle und Veitch, Gray’s Inn Square, Holborn. Ich stand dort und versuchte tastend den Inhalt zu erraten – ein dünnes Bändchen, etwa fünf mal acht Zoll groß und ein Brief oder irgendein Dokument – natürlich, es musste die Übertragung der Testamentsverwaltung auf Veitch sein. Ich steckte das Päckchen in meinen Paletot und leerte die anderen Taschen, in denen ich ein Taschenmesser, ein Paar Reithandschuhe und eine Geldbörse mit vier Zwanzigshillingmünzen fand.
    Natürlich konnte Magnus einfach seinen Mantel vergessen haben.
    Ich ging durch die Bibliothek, wo ich etwas erblickte, das wie ein riesiges Spinnrad aussah, mit einem halben Dutzend Scheiben aus Glas, einem Griff und Drähten, die unter der Tür hindurch in die Galerie führen mussten. Die Tür war abgeschlossen, aber dieses Mal von außen; ich drehte den Schlüssel und trat ein.
    In der Mitte des Raumes war ein kleiner runder Tisch, umgekippt, mehrere Stühle drum herum, zwei davon waren umgefallen. Der Sarg von Sir Henry Wraxford stand wie ein Felsen im Dunkel des Kamins. Drähte liefen von der Maschine in der Bibliothek an meinen Füßen vorbei und waren mit denen, die von der Rüstung zu der Leitung der Blitzableiter führten, verbunden. Ich vernahm erst jetzt – unter demGeruch von altem Kupfer und verschimmeltem Stoff, der in der Luft lag – einen schwachen, beißenden Geruch nach Verbranntem.
     
    Die Rüstung war geschlossen. Als ich mich näherte, während mich jede Faser meines Körpers zur Flucht drängte, sah ich an der Stelle, wo die Spitze des Schwerts die Metallplatte durchdrang, einen rostigen Dolch in dem Schlitz stecken, der den Mechanismus blockierte. Zwischen den Platten hing ein Fetzen taubengrauen Stoffs, der vom Saum eines Frauenkleides abgerissen sein konnte, wie das, das Nell an jenem Nachmittag vor einer Woche getragen hatte. Der Stoff war verkohlt entlang der Linie, wo er in der Rüstung verschwand.
    Ich stand wie versteinert, die Geschichte aus Chalford von einem einzelnen Blitz über dem Mönchswald Sonntagnacht im Sinn, und starrte auf den Stofffetzen, bis ich realisierte, dass der Stoff von außen eingeklemmt war. Im Schatten der Rüstung lag eine kleine, mit Juwelen besetzte Pistole, wie eine Frau sie tragen mag.
    Regen prasselte gegen die Fenster über mir. Ich steckte die Pistole in meine Tasche, bückte mich, um den Dolch zu lösen, und mit einem Schauder, als wenn ich eine Schlange anfasste, ergriff ich den Schwertgriff.
    Etwas Graues, Amorphes umgab mich, etwas schlug gegen meinen Fuß und wirbelte um mich herum in einer grobkörnigen, grauen Wolke, die mir Mund und Nase mit Asche füllte. Asche war auf meinem Haar und auf meiner Kleidung, und als die Wolke sich gelegt hatte, sah ich, dass meine Füße von gräulichen Knochensplittern umgeben waren. Dazwischen glitzerten Goldkügelchen – eines noch in den Resten eines Zahns – und die Fassung eines Siegelrings; schwarz und verformt, aber noch erkennbar, war sie mit einem zylindrischen Stück Knochen verschmolzen.
     
    ∗∗∗
     
    Ich dachte nicht: «Nell hat das getan.» Ich hatte keine Angst mehr; ich spürte gar nichts mehr.

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