Ruf ins Jenseits
von dem Todesschrei der Lady, der noch zweihundert Meter vom Haus entfernt zu hören war. Sie haben auch gehört, dass die Polizei eine zerknitterte Nachricht auf dem Boden von Mrs Bryants Zimmer gefunden hat – die Einladung, um Mitternacht in die Galerie zu kommen – was den Zeitpunkt und den Ort ihres Todes darstellt. Die Handschrift scheint die von Mrs Wraxford zu sein. Unsere Aufgabe ist es nicht, diesen Todesfall zu untersuchen, aber er ist dennoch ein Indiz für eine gefährliche Disposition zur Gewalt aufseiten von Mrs Wraxford.
Dann ist da die Sache mit der Halskette. Sie haben von Doktor Rhys gehört, dass Mrs Wraxford von dem Verschiedenen weit entfremdet schien. Sie haben von dem Repräsentanten der Werkstatt in der Bond Street, die das Schmuckstück anfertigte, vernommen, dass der Verstorbene dieses ausgefallene Geschenk für seine Ehefrau für zehntausend Pfund erstand – was das Bild eines treu liebenden, wenn nicht gar völlig vernarrten Ehemanns ergibt, der um jeden Preis versucht, dieAchtung seiner Frau wiederzugewinnen. Sie haben gehört, dass das leere Schmuckkästchen von der Polizei unter einer Diele in Mrs Wraxfords Zimmer entdeckt wurde. Die Kette wurde nicht gefunden.»
Er sagte noch eine Menge in dieser Richtung. Nach kurzer Beratung sprachen die Geschworenen einstimmig das Urteil eines vorsätzlichen Mordes durch eine oder mehrere unbekannte Personen und setzten eine Belohnung für die Verhaftung von Eleanor Wraxford aus.
∗∗∗
Die Obduktion von Mrs Bryant brachte zutage, dass sie an einer fortgeschrittenen Herzkrankheit gelitten hatte und an Herzversagen gestorben war, vermutlich infolge eines heftigen Schocks. Aber die Familie war damit nicht zufrieden. Der ferne Sohn trat nun für seine Mutter ein, und schon bald gab es Gerüchte in London, dass Doktor Rhys und die Wraxfords ein Mordkomplott an Mrs Bryant ersonnen hatten – und dass Eleanor Wraxford dann Mann und Kind ums Leben gebracht habe und mit den Diamanten geflohen sei.
Magnus Wraxford hatte in seinem Testament, das einige Monate vor seinem Tod datierte, das gesamte Anwesen seiner Cousine Augusta Wraxford vermacht, einer alten Jungfer, beinahe vierzig Jahre älter als er. Für Nell und Clara hatte er keine Vorkehrungen getroffen, ebenso wenig für seine Dienerschaft. Mr Veitch schrieb mir in freundlichem Ton, er wolle sichergehen, dass Magnus nicht ein späteres Testament bei mir aufgesetzt habe. Das Besitztum bestand jedoch ausschließlich aus Schulden: Was in dem Haus am Munster Square war, musste verkauft werden, um sie zu verringern. Am Ende der Abwicklung wurden die Hausangestellten auf die Straße gesetzt (mit Ausnahme von Bolton, von dem ich nie wieder hörte) und mussten sich neue Anstellungen suchen. Das Vermächtnis anAugusta Wraxford – wie ich später erfuhr, hegte sie einen lebenslangen Groll gegen ihre männliche Verwandtschaft, weil diese das Anwesen ruiniert hatte – erschien wie ein satirischer Akt der Böswilligkeit.
Ich blieb der Anwalt des Anwesens, teils aus Angst vor dem, was jemand anderes entdecken könnte, teils in der vagen Hoffnung, etwas von Nell zu hören. Magnus’ Testament war kaum in Kraft getreten, da wandte sich Augusta Wraxford – eine ungestüme alte Dame mit ausgesprochen exzentrischen Ansichten – mit dem Auftrag an mich, ihre nächste weibliche Verwandte ausfindig zu machen. Damit begann der lange und mühselige Prozess, den Stammbaum zu erstellen und zu überprüfen, in dessen Verlauf ich feststellte, dass Nell eine entfernte Verwandte von Magnus gewesen war, was die Tragödie nur noch düsterer erscheinen ließ. Und obgleich Augusta Wraxford Hall lange begehrt hatte, konnte sie es sich nicht leisten, das Herrenhaus in einen bewohnbaren Zustand versetzen zu lassen. Alles, was sie tun konnte, war, die Schulden zu verringern. Verkaufen wollte sie es nicht, und so wurde das Haus einmal mehr verschlossen und seinem langsamen Verfall überlassen.
Ich habe mein Geständnis abgelegt. Es hat mich Tag und Nacht gequält, und ich weiß nicht, was ich glauben soll. Wenn ich mir Nells Gesicht in Erinnerung rufe, kann ich sie mir nicht als Mörderin vorstellen. Aber wenn ich an die Beweise denke und wenn ich mir vor Augen führe, was das Urteil der Welt wäre: dann hat sie mich schlichtweg betrogen und mich, durch meine eigene närrische Verliebtheit, zum Helfershelfer eines Mordes gemacht.
∗∗∗
Sechster Teil
Constance Langtons
Weitere Kostenlose Bücher