Ruf ins Jenseits
Erzählung
Während meiner Lektüre hatte es den ganzen Tag ununterbrochen geregnet, die Tropfen trommelten unter dem Esszimmerfenster auf die Kiesel und bildeten Pfützen auf dem bereits durchweichten Rasen. Abgesehen von dem einen oder anderen kahlen Zweig über der Mauer gab es in den grauen Nebelschwaden nicht viel zu sehen. Mehr als einmal hatte ich von den Seiten der Erzählung John Montagues aufgesehen und gespürt, wie es mir kalt den Rücken herunterlief, ehe die Wärme des Feuers mich in den Elsworthy Walk zurückbrachte.
Lange bevor ich das Ende erreicht hatte, war mir klar, dass meine Ähnlichkeit mit Nell ihn so aufgewühlt hatte, diese Ähnlichkeit und seine «wilde Phantasie», wie er es formuliert hatte, dass ich Clara Wraxford sein könnte. Mein Herz hatte die Möglichkeit akzeptiert – ja, nach ihr gegriffen –, lange bevor mein Kopf auch nur anfing zu verstehen, was das bedeuten könnte. Ich war der festen Überzeugung, dass Nell unmöglich ihrem Kind hatte etwas zuleide tun können. Es gab so vieles, was ich Mr Montague fragen wollte, und doch hatte sein Brief eine eigentümliche Abgeschlossenheit, enthielt ein Lebewohl, als würde Mr Montague nicht damit rechnen, noch einmal von mir zu hören.
Mein Onkel hatte (eher zu meiner Erleichterung, denn ich war unschlüssig, was ich ihm erzählen sollte und ob überhaupt) beschlossen, dem Wetter zu trotzen, und aß mit einem seiner Künstlerfreunde, und so nahm ich mein Abendbrot auf einemTablett mit an den Kamin, wo ich den Stammbaum, den John Montague aufgezeichnet hatte, studierte. Der aufkommende Wind rüttelte an den Fensterflügeln und peitschte den Regen gegen die Scheiben.
Das Schaubild war so gezeichnet, dass Clara Wraxford (1868–?) und Constance Langton (* 1868) am Seitenende nebeneinanderstanden. Mein ganzes Leben habe ich mich ausgeschlossen gefühlt, getrennt vom Rest der Welt. Doktor Donnes Spruch «Kein Mensch ist eine Insel» hatte bei mir immer das gegenteilige Gefühl bestärkt: Unser Haus in Holborn
war
eine Insel gewesen, eine abgeschlossene Einheit, und Almas Tod hatte uns alle noch mehr darauf beschränkt. Vermutlich wäre die Verbindung zu den Wraxfords vielen alles andere als wünschenswert erschienen, aber mir schien es, als sei meine Welt gerade wegen dieser dunklen und unheimlichen Geschichte von Wraxford Hall plötzlich gewachsen.
Angenommen, dachte ich, während ich auf die feinen Verbindungslinien zwischen unseren Namen starrte, nur einmal angenommen, ich
bin
Clara Wraxford: Was würde daraus folgen? Zunächst einmal, dass Nell unschuldig ist und zumindest das Schlimmste der ihr angelasteten Verbrechen nicht begangen hat. Ihr Tagebuch war mir Beweis genug für ihre Unschuld, genauso, wie ich mir sicher war, dass sie mit Mrs Bryants Tod nichts zu tun hatte. Und sollte sie wirklich Magnus in der Rüstung eingesperrt haben, dann hatte sie es aus Angst um ihr und um Claras Leben getan. Ich fragte mich, ob Mr Montague nicht einen gravierenden Fehler begangen hatte, indem er diese Tagebücher nicht der Polizei aushändigte.
Andererseits: Hätte John Montague nicht nur das Päckchen, das er in Magnus’ Jackentasche gefunden hatte, sondern auch den Dolch, die Pistole und den Stofffetzen verborgen, dann wäre Magnus’ Tod für einen Unfall gehalten worden, das Ergebnis eines «bizarren Experiments» – eine Formulierung, die Magnus selbst benutzt hatte, als er über seinen Onkel Corneliussprach –, und dann hätte für Nell, wenn sie wirklich mit Clara geflohen war, nicht die Notwendigkeit bestanden, sich zu verstecken, als die Nachricht verbreitet wurde.
Was ist in der Nacht von Mrs Bryants Tod geschehen? Nell hatte in ihrem letzten Eintrag erklärt, sie würde von der Bibliothek aus zusehen, um herauszufinden, wer sie gerufen habe. Vielleicht hatte sie es sich doch anders überlegt; vielleicht hatte sie wirklich geschlafen, als das Dienstmädchen mit der Nachricht von Mrs Bryants Tod an ihre Tür klopfte. Und später in derselben Nacht waren sie und Clara aus dem Zimmer verschwunden.
Ich werde, sagte ich mir streng, mir selbst verbieten, über Wendungen wie
Körper und Seele hinforttragen
nachzusinnen.
Und natürlich wurde Nell nicht hinfortgetragen, denn Magnus hatte sie gesehen – jedenfalls sagte er, er habe sie gesehen – auf der Treppe, nachdem alle anderen Wraxford Hall verlassen hatten.
Aber wenn Nell ihn in der Rüstung eingesperrt hatte (und ich konnte mir im tiefsten Innern
Weitere Kostenlose Bücher