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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Besuch entsetzliche Kopfschmerzen. Aber ich war mir absolut sicher, dass ich wach gewesen war.
    Auch als mir die Seltsamkeit des Erlebten klargeworden war, konnte ich an meine Besucherin nicht als an einen Geist denken. Meine Lektüre hatte mir eine durchaus lebendige Vorstellung davon vermittelt, wie sich Geister zu verhalten und wie sie auszusehen hatten: Ein Hauch von Transparenz und ein Stöhnen, ein- oder zweimal, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, waren in jedem Fall zu erwarten. Aber Großmama war einfach – na ja, eben Großmama. Und auch wenn mir nichts dergleichen je zuvor widerfahren war, hatte ich mich doch kein bisschen gefürchtet.
    Doktor Stevenson hatte mich für gesund genug befunden, dass ich aufstehen könne. Die Erinnerung an den Besuch meiner Großmutter war so vage geworden, dass ich beinahe glaubte, es wäre tatsächlich ein Traum gewesen, als ich eines Abends nach dem Essen meinen Vater vor mir durch den Korridor gehen sah. Er war keine zehn Schritte von mir entfernt. Ich hörte denBoden unter seinen Schritten knarren, roch den Rauch seiner Zigarre. Er sah nicht nach rechts, nicht nach links und schloss die Tür hinter sich, gerade so, wie er es zu seinen Lebzeiten immer getan hatte. Wieder verspürte ich keine Furcht, sondern nur den unmittelbaren Impuls, an seine Tür zu klopfen. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke herunter. Die Tür ließ sich problemlos öffnen, aber niemand war im Zimmer. Da standen nur die wohlbekannten braunen Sessel aus brüchigem Leder auf dem alten Perserteppich, der gut gearbeitete Tisch, dessen Füße sich in die zornigen Gesichter von Tigern gruben, was mich als Kind unendlich fasziniert hatte. Die Bücherregale waren voller Blaubücher und Armeelisten, Regimentsgeschichten und Berichte vergangener Feldzüge. Ein schwacher Geruch von Tabak und Leder und alten Büchern lag in der Luft. Ich stand lange in der Tür, in Erinnerungen versunken.
     
    ∗∗∗
     
    Mein Vater hatte einen Großteil, zumindest die zweite Hälfte seines Lebens in seinem Zimmer verbracht. Meine Mutter hatte er während eines Heimaturlaubs kennengelernt, nach etlichen Jahren bei der Armee in Bengalen. Er hatte einen grau-weiß melierten Schnurrbart und einen Backenbart, der sich beim Gehen zu sträuben schien, was ihm ein gefährliches Aussehen verlieh. Seine Haut war seit einem heftigen Fieber immer gelblich, und seine Glatze glänzte dermaßen, dass ich mich immer fragte, ob er sie heimlich polierte. Ab und zu nahm er Sophie und mich zu einem langen Spaziergang mit. Wenn wir dann ein einsames Feld fanden, wo uns niemand beobachtete, drillte er uns wie Soldaten. Wir marschierten im Gleichschritt auf und ab, nahmen eine stramme Haltung an und salutierten. Ich liebte dieses Spiel und ließ Sophie im Garten antreten, bis Mama der Sache ein Ende bereitete. Es missfiel ihr, dass kleine Mädchen Soldaten spielten.
    Als jüngste Tochter in ihrer Familie hatte meine Mutter ihren Vater, der vollkommen invalide war, pflegen müssen. Als er starb, war sie beinahe dreißig Jahre alt gewesen. Damals schon blass und schmal, nahm sie im Lauf der Jahre noch weiter ab, sodass ihre Wangenknochen noch mehr hervortraten, was ihre blassblauen Augen noch größer erscheinen ließ. Irgendwann begriff ich, dass das Haus in Highgate ein Kompromiss zwischen meinen Eltern gewesen war: Mein Vater hätte lieber weit weg von London auf dem Land gelebt; meine Mutter wollte unbedingt zur Gesellschaft gehören. Als Kind hatte ich nicht wirklich eine Vorstellung davon, was Gesellschaft sein mochte. Aber Highgate stand offenbar am äußersten Rande davon. An Kontakten mangelte es uns nicht: Major James Paget, ein langjähriger Freund und Kamerad meines Vaters, wohnte nur wenige Minuten von unserem Haus entfernt. Mit seiner Tochter Ada war ich befreundet, seit sie sieben war. Aber irgendwie zählten die Pagets nicht als Gesellschaft.
    Ada und ich wurden oft für Schwestern gehalten, waren wir doch beide ziemlich groß und kräftig. Unser Haar war dunkler als das von Sophie, die mit ihrem blonden Haar und der hellen Haut fraglos die Schönheit unserer Familie war. Sophie war immer das Lieblingskind meiner Mutter gewesen, liebte sie doch Bälle und Partys, Klatsch und Tratsch. Ohne weiteres konnte sie einen halben Tag vor ihrem Spiegel sitzen, Zeit, die ich bei weitem lieber mit der «Nase in einem Buch vergraben» verbrachte, wie meine Mutter es abfällig nannte. Als ich älter wurde, realisierte ich, dass

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