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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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es ihm deutlich schlechter, als es mir gegangen war. Er war ins Krankenhaus gebracht worden, wo er den ersten Fieberschub überlebte und Doktor Drawson seine merkwürdige Geschichte erzählen konnte. Aber seine Lungen erholten sich nicht, und eine weitere Infektion raffte ihn innerhalb eines Monats dahin.
    Drawson, obgleich er die Geschichte kurios genug fand, um sie weiterzuerzählen, tat sie freilich als Fieberwahn eines unglücklichen Menschen ab. Natürlich stimmte ich ihm zu, aber die Geschichte erinnerte mich an den alten Aberglauben über Wraxford Hall, und das Bild der verhüllten Gestalt mit Laterne ließ meiner Phantasie für mehrere Monate keine Ruhe.

Dritter Teil
Eleanor Unwins Erzählung
    1867
    Es begann mit einem Sturz, kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Wobei ich mich nur daran erinnere, dass ich mich wie gewöhnlich schlafen gelegt hatte und dann aufwachte wie nach einem langen, traumlosen Schlaf. An diesem Wintermorgen fand man mich im Nachthemd am Fuß der Treppe liegen. Man trug mich in mein Zimmer. Dort lag ich den nächsten Tag und die nächste Nacht ohnmächtig und nur schwach atmend. Als ich zu mir kam, beugte sich der alte Doktor Stevenson gerade über mich. Sein Kopf war von einem erstaunlichen Licht umgeben, in das sich alle Farben des Regenbogens mischten, ein so feines und doch so leuchtendes Strahlen von Farben, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Und für einige Zeit   – Minuten, Stunden, ich wusste es nicht – war jeder, der an mein Bett trat, in dieses paradiesische Licht getaucht. So auch meine Mutter und meine Schwester Sophie: Als sie zu mir kamen, meinte ich, sie seien einer alten illuminierten Handschrift entstiegen, die ich einmal gesehen hatte. Bei jeder Person veränderte sich das Licht ein wenig, und die Farben schimmerten und wandelten sich, wenn sich die Besucher bewegten und wenn sie sprachen. Ein Vers ging mir immer wieder durch den Sinn: «Selbst Solomon in seinem Ruhme war nicht erstrahlt wie diese hier.» Aber dann bekam ich Kopfschmerzen, die immerschlimmer wurden, sodass ich meine Augen schließen musste und darauf wartete, dass das Schlafmittel wirken würde. Als ich wieder erwachte, war das Strahlen verschwunden.
    Alle nahmen an, dass der Sturz erfolgt war, als ich schlafwandelte. Schon als Kind hatte ich das getan, so oft, dass meine Mutter mir gedroht hatte, mich in ihrem Zimmer einzusperren. Allerdings hatte ich mich bislang nie verletzt. Mama war wirklich alles andere als mitfühlend: Es sei, so meinte sie, nur ein weiteres Zeichen für meine Selbstsucht und Widerspenstigkeit, dass ich es fertigbrachte, eine Woche nachdem meine Schwester einen Heiratsantrag angenommen hatte, die Treppe hinunterzufallen. Die Tatsache, dass Sophie um ein Jahr jünger war als ich, machte den Vorwurf nur noch heftiger: Denn hätte ich mich nicht hinter Büchern versteckt, sondern galante Umgangsformen entwickelt, dann wäre auch ich jetzt wohl verlobt. Ich hielt den Verlobten meiner Schwester für einen langweiligen Einfaltspinsel. Aber ich konnte schlecht leugnen, dass ich meiner Mutter das Leben nicht gerade leichtmachte.
     
    Obgleich ich, in wachem Zustand, deutlich weniger furchtsam war als Sophie, neigte ich schon immer zu Albträumen und zum Schlafwandeln. Als ich älter wurde, nahm mein Schlafwandeln ab, aber die Albträume wurden häufiger und bedrückender. Vor allem gab es da einen, der sich wiederholte: von einem riesigen, widerhallenden Haus, das ich mit Sicherheit nie gesehen hatte. Es hatte keine Ähnlichkeit mit der Villa aus rotem Ziegel, in der wir in Highgate lebten. Das Haus wandelte sich von Traum zu Traum, aber ich wusste immer, dass es
das
Haus war. Ich war immer allein, die Stille war mir äußerst bewusst, und mir war, als wäre das Haus selbst lebendig, als beobachte es mich und als spüre es meine Gegenwart. Die dunkel getäfelten Wände waren unendlich hoch, und obwohl es Fenster gab, konnte ich nie etwas hinter den Scheiben sehen.
    Manchmal war ich nur für einen Moment da und erwachtedann mit dem Gedanken: «Ich war wieder in dem Haus.» Aber wenn der Traum in Gänze kam, dann musste ich von einem verlassenen Zimmer ins nächste gehen, voller Angst und doch ohne die Kraft, den Rundgang zu beenden. Ich wusste, ich musste zu einer langen Treppe gelangen – manchmal breit und ausladend, in anderen Träumen eng und ausgetreten – und dann in einen Raum am Ende des Korridors: ein langer Raum mit geschnitzten Truhen und Paravents aus

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