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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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geben: Bessere dich, oder ich werde dir deine Bösartigkeit schon austreiben.»
    Wenn meine Mutter wütend war, sprach sie leicht allerlei Drohungen aus, aber dieses Mal hatte sie mit so kalter, beißender Selbstbeherrschung gesprochen   … Und ich hatte nicht die leiseste Idee, was ein Chirurg mit einem hysterischen Mädchen – eine Wendung, bei der sich mir die Haare sträubten – tun konnte. Ich war volljährig, aber ich hatte zu viele Romane gelesen, in denen unschuldige Heldinnen in Anstalten verbannt wurden, um an der Macht meiner Mutter in dieser Hinsicht zu zweifeln. Gut möglich, dass dieselbe Macht mich unter das Messer eines Chirurgen bringen würde. Ich hatte kein eigenes Geld, ich hatte keine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich kannte noch nicht einmal die Regelungen im Testament meines Vaters, ganz zu schweigen von den Einnahmen aus dem Anwesen. Glaubte ich den Klagen meiner Mutter, dann reichten diese kaum für unseren Unterhalt aus.
    Und jeden Augenblick konnte mich eine weitere Visitation heimsuchen, zu einem noch unglücklicheren Zeitpunkt als die letzte. Wäre der junge Mann mir zehn Minuten später erschienen,wäre ich bereits auf dem Weg zum Chirurgen oder ins Irrenhaus. Er hatte so sanftmütig, so harmlos ausgesehen, bis zum Augenblick seiner Auflösung. Aber war es wirklich nur ein Zufall, dass er ausgerechnet zu dem Zeitpunkt erschienen war, als die Carstairs ankamen   …? All das war zu entsetzlich, um es alleine durchzustehen. Ich ging in mein Zimmer, wo ich einen langen Brief an Ada zu schreiben begann. Ich hatte keine Ruhe, ehe ich ihn beendet, versiegelt und zur Post gebracht hatte.
    Beim Abendessen teilte Sophie mir ausgesprochen kalt mit, dass es ihr und Mama geglückt war, ihre Aufregung vor den Carstairs zu verbergen. Sie hatten behauptet, ich hätte einen Rückfall von der Gehirnerschütterung nach meinem Sturz erlitten. Mehr nicht. Mama und Sophie unterhielten sich so demonstrativ über Triviales, dass ich – sobald es die Höflichkeit erlaubte – vom Tisch aufstand mit dem deutlichen Gefühl, bereits verdammt zu sein. Und so war ich unendlich erleichtert, Adas Antwortbrief zu erhalten, in dem sie mich zu einem baldigen Besuch drängte.
     
    ∗∗∗
     
    Für die Bitte, fahren zu dürfen, musste ich meinen gesamten Mut zusammennehmen. Zum Glück hatte Mama keine Einwände. «Vielleicht ist es das Beste», sagte sie mit äußerster Kälte, «wenn du uns vom Hals bleibst, bis Sophie verheiratet ist. Ich werde dir schreiben, wenn die Hochzeit näher rückt. Wir sehen dann, ob man dir so weit trauen kann, dass du zur Hochzeit kommen kannst.» Während meiner gesamten Reisevorbereitungen war ich krank vor Angst, meine Freiheit könne mir durch eine weitere Erscheinung genommen werden. Soweit es ging, blieb ich in meinem Zimmer, bis mein Koffer – sicher in der Kutsche verstaut – auf dem Weg war. Meine Angst begleitete mich auf der ganzen Fahrt durch den Schmutz vonSpitalfields und Bethnal Green zum Bahnhof in Shoreditch. Endgültig verschwand sie erst, als ich George Woodward auf dem Bahnsteig in Chalford erblickte. Der wilde orangefarbene Haarschopf (keine andere Beschreibung konnte seiner Haartracht gerecht werden), der einen immer denken ließ, er sei gerade einem Sturm entronnen, ließ ihn aus jeder Menschenmenge herausleuchten. Er und Ada hatten sich in London kennengelernt und nach kürzester Zeit geheiratet, als ihm unerwartet die Stelle in Chalford angeboten worden war.
    Das Pfarrhaus von Chalford – ein großes, baufälliges Haus aus grauem Stein, dessen Garten (oder «Hof», wie man in dieser Gegend sagte) von einer Mauer umgeben war – schien mir der heimeligste Ort, an dem ich je gewohnt hatte. «Das würdest du kaum sagen», meinte Ada, «wenn du im Januar kämest. Da heult der Ostwind um das Haus, und an den Mauern türmen sich Schneewehen. Bevor ich hierherkam, waren mir die Londoner Winter kalt erschienen.» Aber bei mildem Juniwetter, wo alles mit Blättern und Blüten geschmückt war, wirkte Chalford paradiesisch. Das Pfarrhaus war nicht weit vom Kirchhof entfernt, umgeben von Feldern und Wäldchen und ein Stück abseits vom Dorf. Das alte Chalford war von der Pest heimgesucht worden, seine Häuser hatte man verbrannt, um der Seuche Herr zu werden, und eine viertel Meile entfernt eine neue Siedlung erbaut. Die Einwohnerzahl des Dorfes hatte sich durch die Landaufteilung auf wenig mehr als hundert Seelen reduziert, die meisten von ihnen

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