Ruf ins Jenseits
Eindruck. Ich blieb in der Tür stehen und wartete darauf, vorgestellt zu werden, aber die anderen schienen ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
«Komm, setz dich, Eleanor», sagte meine Mutter und wies auf das Sofa. Sie wies direkt auf den Platz neben dem jungen Mann.
«Aber – magst du mich nicht vorstellen?», fragte ich.
«Wem?», antwortete meine Mutter und starrte mich an.
«Dem –», ich wies hilflos auf den jungen Mann.
«Ich weiß nicht, wovon du sprichst», sagte Mama scharf, «und mir steht überhaupt nicht der Sinn nach solchen Scherzen. Setz dich und Schluss mit dem Quatsch.»
Während dieses Wortwechsels blickte der Mann weiter still zu Boden, immer noch in bescheidener Zurückhaltung. Ich stand wie zur Salzsäule erstarrt. Ich wusste, dass meine Mutter und Sophie mit mir sprachen, aber ich konnte meine Augen nicht von dem jungen Mann lassen, der – als würde ihm meine Not plötzlich bewusst – sich vom Sofa erhob und auf mich zukam. Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung, den Klang seiner Schritte auf dem Boden. Nur wenige Schritte von mir entfernt hielt er inne, den Blick immer noch gesenkt. Automatisch trat ich zur Seite, um ihn durchzulassen. Aber dann – wie eine Figur, die aus einem Gemälde heraustritt, sich abwendet und sich in einen Schleier von Farbpigmenten verwandelt, der in der Luft schwebt – schien er seitlich in sich zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr von ihm zu sehen war, außer einem zerrinnenden Dunst von Schwärze mit einem grünlichen Lichtkranz. Dann verschwand auch das und ließ mich sprachlos zurück, als das Klingeln an der Tür in meinen Ohren nachhallte.
Ich darf nicht ohnmächtig werden,
sagte ich mir. Unter einemimmensen Kraftaufwand gelang mir eine Entschuldigung, und ich stolperte den Flur entlang, bis ich die Sicherheit des hinteren Zimmers erreichte. Dort fiel ich – in meinem Kopf begann es schon zu hämmern – auf ein Sofa. Die Kopfschmerzen wurden so betäubend, dass ich jedes Zeitgefühl verlor. Ich weiß nicht, wer mir schließlich das Schlafmittel brachte, das mich in dankbare Gleichgültigkeit sinken ließ.
Am nächsten Morgen war ich für einen Moment befremdet, als ich vollkommen angekleidet auf dem Sofa erwachte. Elspeth überbrachte mir zusammen mit Mamas Anweisung, mich nicht von der Stelle zu rühren, bis der Arzt eingetroffen wäre, eine Tasse Tee, aber weder Mama noch Sophie kamen zu mir. Doktor Stevenson kam schließlich, er blickte ungewöhnlich streng, und aus seinen Fragen wurde deutlich, dass die anderen rein gar nichts bemerkt hatten. Mir fiel nichts Besseres ein, als ihm zu sagen, dass mich wohl das Licht getäuscht hatte. Ich erzählte ihm von den entsetzlichen Kopfschmerzen und dass ich geglaubt hatte, jemand säße auf dem Sofa. Alles nicht der Rede wert, eine kurze Verwirrung. Die Kopfschmerzen schienen ihn nicht weiter zu interessieren, und nachdem er mich verlassen hatte, dauerte es lange, ehe ich hörte, wie die Haustür sich hinter ihm schloss.
Ich war auf eine Schimpftirade gefasst, aber nicht auf die eisige Verachtung, mit der Mama meine Entschuldigung abtat. «Du tust dein Bestes, um das Glück deiner Schwester zu zerstören», schimpfte sie, «und was diese Kopfschmerzen angeht, mit denen kommst du aus Feigheit und Gehässigkeit an. Du bist moralisch krank, das hat Doktor Stevenson gesagt. Ausgelöst durch Eifersucht auf deine Schwester. Es gibt Chirurgen, die hysterische Mädchen wie dich zu heilen wissen. Und wenn das nicht hilft, kommst du in eine Irrenanstalt.»
«Es tut mir schrecklich leid, Mama», sagte ich, «aber ich habe es wirklich nicht absichtlich getan. Niemand kann
wünschen,
solche Schmerzen ertragen zu müssen –»
«Dein Schmerz ist nichts gegen das, was du deiner Schwester angetan hast. Und wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen, nach diesem Auftritt, gerade als wir Mrs Carstairs und ihre Töchter erwarteten?»
«Waren sie denn sehr ungehalten?», fragte ich vorsichtig.
«Nachdem du dir alle Mühe gegeben hast, den Besuch zu ruinieren, kannst du dir solche Nachfragen schenken. Also, hör mir gut zu: Wäre da nicht Sophie, hätte ich dich sofort zu einem Chirurgen gebracht. Aber wenn die Carstairs irgendwelche Anzeichen von Schwachsinn in unserer Familie vermuten, dann macht Arthur sofort einen Rückzieher. Wenn er das tut, dann werde ich dich für immer einsperren, auch wenn das natürlich kein Trost für unsere arme Sophie wäre. Ich werde dir eine letzte Chance
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