Ruf mich bei Deinem Namen
und Oliver lebhaft redend
aus einer Seitenstraße kommen sah. Er aß ein Eis, sie hatte sich mit beiden Händen an seinen freien Arm gehängt. Seit wann waren sie so intim? Es schien ein ernsthaftes
Gespräch zu sein.
»Was machst du denn hier?«, fragte er, als er mich entdeckt hatte. Das Geplänkel sollte darüber hinwegtäuschen, dass wir eigentlich nicht mehr miteinander sprachen.
Ein billiger Trick, dachte ich.
»Rumhängen.«
»Müsstest du nicht schon im Bett sein?«
»Mein Vater hält nichts von festen Schlafenszeiten.«
Chiara wirkte sehr nachdenklich. Sie mied meinen Blick.
Hatte er ihr die Nettigkeiten weitererzählt, die ich über sie gesagt hatte? Sie schien verunsichert. Ärgerte sie sich, weil ich unvermittelt in ihre Zweisamkeit eingedrungen war?
Ich dachte daran, in welchem Ton sie vormittags mit Mafalda gesprochen hatte. Ein hämisches Lächeln lag um ihre Lippen, gleich würde sie etwas Gehässiges sagen.
»Bei denen gibt’s keine Schlafenszeit, keine Regeln, keine Beaufsichtigung, nichts. Deshalb ist er ein so braver Junge, verstehst du? Er hat nichts, wogegen er sich auflehnen
könnte.«
»Stimmt das?«
»Kann schon sein«, sagte ich so obenhin wie möglich, ehe sie noch weiter auf dem Thema herumreiten konnte. »Wir haben alle unsere eigene Art, uns aufzulehnen.«
»Ach ja?«, sagte Oliver.
»Nämlich?«, fragte Chiara dazwischen.
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Er liest Paul Celan.« Oliver versuchte offenbar, die Unterhaltung auf ein anderes Gleis zu bringen, vielleicht wollte er mir aber auch nur zu Hilfe kommen und mir zeigen, dass er
unser damaliges Gespräch nicht vergessen hatte. Versuchte er mich nach der Spitze über mein langes Aufbleiben zu rehabilitieren, oder drohte hier noch ein Witz auf meine Kosten? Sein
Gesicht verriet nichts.
» E chi è? « Sie hatte noch nie von Paul Celan gehört.
Ich schickte einen schnellen komplizenhaften Blick zu ihm hinüber, er fing ihn auf, erwiderte ihn aber ohne das leiseste Augenzwinkern. Auf wessen Seite war er?
»Ein Dichter«, sagte er leise, während sie zum Zentrum der Piazzetta schlenderten, und schickte ein lässiges »Später« in meine Richtung hinterher.
Ich sah, wie sie sich in einem der benachbarten caffès einen freien Tisch suchten.
Ob er versuchte, sie anzubaggern, wollten meine Freunde wissen.
Weiß ich nicht.
Sind sie schon zur Sache gekommen?
Weiß ich auch nicht.
Mann, mit dem würd ich gern tauschen.
Wer nicht?
Aber ich war selig. Dass er unser Gespräch über Celan nicht vergessen hatte, gab mir Auftrieb wie schon seit vielen Tagen nicht mehr, und dieses Hochgefühl verbreitete sich auf
alles, was ich anpackte. Nur ein Wort, ein Blick – und restlose Seligkeit. Vielleicht war es eben doch gar nicht so schwer, glücklich zu sein. Ich brauchte nur die Quelle des
Glücks bei mir selbst zu suchen, statt es von anderen zu erwarten.
Die biblische Geschichte fiel mir ein, in der Jakob Rachel um Wasser bittet und daraufhin die Worte ausspricht, die ihm prophezeit worden waren, die Hände zum Himmel erhebt und den Boden am
Brunnen küsst. Ich war Jude, Celan war Jude, Oliver war Jude – was uns umschloss, war halb Getto, halb Oase inmitten einer grausamen, unnachgiebigen Welt, ein Platz, an dem das
Irrewerden an Fremden plötzlich ein Ende hat, wo wir niemanden missdeuten und niemand uns missdeutet, wo einer den anderen kennt, so gut kennt, dass der Verlust dieser vertrauten Umgebung galut ist, das hebräische Wort für Exil und Zerstreuung. War er also mein Zuhause, meine Heimkehr? Du bist meine Heimkehr, Oliver. Wenn ich bei dir bin und
es uns beieinander wohl ist, bin ich wunschlos glücklich. Dir verdanke ich es, dass ich mich so mag, wie ich bin, wie ich werde, wenn du bei mir bist. Wenn es eine Wahrheit gibt in der Welt,
finde ich sie in den Augenblicken, da ich bei dir bin, und sollte ich eines Tages den Mut aufbringen, dir meine Wahrheit zu gestehen, erinnere mich daran, an sämtlichen Altären Roms zum
Dank eine Kerze anzuzünden.
Ich bedachte nicht, dass mich, da ein Wort von ihm mich so beglückte, ein anderes mich ebenso leicht niederschmettern konnte, dass ich, wenn ich nicht unglücklich werden wollte, lernen
musste, solch kleinen Freuden auch zu misstrauen.
Am gleichen Abend aber nutzte ich den Schwung dieses Hochgefühls, um Marzia anzusprechen. Wir tanzten bis nach Mitternacht, dann machten wir uns am Strand entlang auf den Heimweg. Unterwegs
blieben wir stehen. Ich
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