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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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nur aus dem Haus gehen mochte, standen plötzlich alle Freunde um den Flügel im Wohnzimmer herum, wo ich die Mozartfassung jenes Schlagers als Brahms-Variation spielte.
»Wie machst du das?«, fragte er ein andermal, als er vormittags im Himmel lag.
    »Manchmal ist die einzige Möglichkeit, einen Künstler zu verstehen, in seine Schuhe zu schlüpfen, in ihn hineinzukriechen. Alles andere kommt von selbst.«
    Wir unterhielten uns wieder über Bücher, ein Thema, über das ich außer mit meinem Vater kaum sprach.
    Oder über Musik, über die vorsokratischen Philosophen, über das College in den Staaten.
    Und dann war da noch Vimini.
    Zum ersten Mal ließ sie sich an unseren gemeinsamen Vormittagen sehen, als ich gerade eine Variation über Brahms’ letzte Händelvariationen spielte.
    Ihre Stimme drang durch die brütende Hitze.
    »Was machst du gerade?«, fragte sie mich.
    »Ich arbeite«, gab ich zurück.
    Oliver, der bäuchlings am Rand des Pools lag und dem der Schweiß zwischen den Schulterblättern herunterlief, sah auf.
    »Ich auch«, sagte er, als sie sich umdrehte und ihm die gleiche Frage stellte.
    »Du hast geredet, nicht gearbeitet.«
    »Kommt auf dasselbe heraus.«
    »Ich wünschte, ich könnte arbeiten. Aber mir gibt keiner was zu arbeiten.«
    Oliver, der Vimini noch nie gesehen hatte, blickte hilflos zu mir hoch, als wüsste er nicht, welche Regeln für dieses Gespräch galten.
    »Oliver, darf ich dich mit unserer direkten Nachbarin Vimini bekanntmachen.«
    Sie streckte ihm die Hand hin, und er schlug ein.
    »Vimini und ich haben am gleichen Tag Geburtstag, aber sie ist zehn. Und ein Genie. Stimmt’s, Vimini?«
    »Das sagen die Leute. Aber so, wie’s aussieht, darf ich keins werden.«
    »Und warum nicht?« Oliver war hörbar bemüht, nicht in einen allzu gönnerhaften Ton zu verfallen.
    »Es wäre ziemlich geschmacklos von der Natur, wenn sie mich als Genie geplant hätte.«
    Oliver sah noch betroffener drein. »Wie meinst du das?«
    Sie schaute mich an. »Weiß er nicht Bescheid?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Es heißt, dass ich nicht lange leben werde.«
    »Warum sagst du das?« Er wirkte ganz erschlagen. »Woher willst du das wissen?«
    »Alle wissen es. Weil ich Leukämie habe.«
    »Aber du bist so schön, du wirkst so gesund und bist so gescheit«, protestierte er.
    »Wie gesagt – ein schlechter Witz.«
    Oliver, der jetzt auf dem Rasen kniete, war das Buch aus der Hand gefallen.
    »Vielleicht kannst du mal rüberkommen und mir was vorlesen«, sagte sie. »Ich bin eigentlich sehr nett – und du scheinst auch nett zu sein. Also
dann – Wiedersehen …«
    Sie kletterte über die Mauer. »Und entschuldige, dass ich hier so rumgegeistert bin – ich meine …«
    Man sah förmlich, wie sie versuchte, die unglücklich gewählte Formulierung zurückzuholen.
    Wenn uns nicht schon die Musik an diesem Tag zumindest für ein paar Stunden näher zusammengebracht hätte, wäre das Vimini gelungen.
    Wir sprachen den ganzen Nachmittag von ihr. Ich brauchte kaum etwas zu sagen, Oliver hörte nicht auf zu reden und zu fragen. Er war fasziniert. Ausnahmsweise sprach ich nicht über
mich.
    Sie freundeten sich rasch an. Wenn er morgens vom Joggen oder Schwimmen kam, war sie immer schon auf, zusammen gingen sie zum Törchen und sehr vorsichtig den Klippensteig hinunter und
steuerten einen der großen Felsen an. Dort saßen sie dann und redeten, bis es Zeit zum Frühstück war. Noch nie hatte ich eine so schöne und intensive Freundschaft erlebt.
Ich war nie eifersüchtig, und niemand, ganz gewiss nicht ich, wagte es, sich dazwischenzudrängen oder sie zu belauschen. Ich werde nie vergessen, wie sie ihm die Hand hinstreckte, wenn
sie das Gatter geöffnet hatten. Sie wagte sich selten so weit, wenn nicht ein Erwachsener dabei war.
    Wenn ich an jenen Sommer zurückdenke, will es mir einfach nicht gelingen, die Abfolge der Ereignisse einzuordnen. Ein paar Schlüsselszenen habe ich noch im Kopf,
ansonsten erinnere ich mich nur an die Wiederholungen. Das morgendliche Ritual vor und nach dem Frühstück, wenn Oliver im Gras oder am Pool lag und ich an meinem Tisch saß. Das
Schwimmen oder Joggen. Danach seine Fahrt zu der Übersetzerin in die Stadt. Das Mittagessen an dem großen Esstisch im Schatten oder den Lunch im Haus, immer mit ein, zwei Gästen zur
Mittagsplage. Die wunderbaren Nachmittage mit einer Überfülle an Sonne und Stille.
    Dann ein paar Restszenen: Die ständigen Fragen meines Vaters,

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