Ruf mich bei Deinem Namen
damit, dass ich mich schämte, weil ich ihn so begehrte, wie Chiara es tat – ich achtete und fürchtete ihn, und ich hasste ihn, weil er mich dazu gebracht hatte,
mich selbst zu hassen.
An dem Morgen, nachdem ich sie hatte tanzen sehen, machte ich keine Anstalten, mit ihm joggen zu gehen, er allerdings auch nicht. Als ich schließlich davon anfing, weil ich es nicht mehr
aushielt, das Thema totzuschweigen, sagte er, er sei schon joggen gewesen. »Du stehst neuerdings so spät auf.«
Ganz schön clever, dachte ich.
In den letzten Tagen hatte ich mich tatsächlich daran gewöhnt, dass er morgens schon auf mich wartete, war leichtsinnig geworden und hatte mich mit dem Aufstehen nicht besonders
beeilt. Das würde mir eine Lehre sein.
Am nächsten Morgen wäre ich gern mit ihm schwimmen gegangen, aber nach unten zu kommen hätte ausgesehen wie eine übertriebene Reaktion auf eine eher beiläufige
Zurechtweisung, also blieb ich auf meinem Zimmer. Nun gerade! Ich hörte ihn leise, fast auf Zehenspitzen, über den Balkon gehen. Er wich mir aus.
Als ich dann viel später nach unten kam, war er schon losgefahren, um seine Korrekturen abzuliefern und sich neue Seiten bei Signora Milani abzuholen.
Das Gespräch zwischen uns versiegte.
Obwohl wir uns vormittags das gleiche Stück Garten teilten, sprachen wir nur noch das Nötigste miteinander, man konnte es nicht mal mehr höfliche Konversation nennen. Er
ließ sich nichts anmerken, machte sich wahrscheinlich überhaupt keine Gedanken darüber.
Wie kommt es, dass gewisse Menschen durch die Hölle gehen, um dir nah zu sein, während du nicht die leiseste Ahnung davon hast und keinen Gedanken an sie verschwendest, wenn zwei
Wochen ins Land gehen, ohne dass ein einziges Wort zwischen euch fällt? Machte er sich eine Vorstellung davon? Sollte ich es ihm sagen?
Die Romanze mit Chiara hatte am Strand begonnen. Er vernachlässigte das Tennisspielen und machte stattdessen mit ihr und ihren Freunden am Spätnachmittag Fahrradtouren zu den
Bergstädten weiter westlich. Als einmal zu viele aus unserer Gruppe mitfahren wollten, fragte mich Oliver, ob ich Mario mein Rad überlassen könne, da ich es ja nicht benutzte.
Ich kam mir vor, als sei ich wieder sechs und zuckte die Schultern – mach was du willst, mir ist es einerlei. Aber kaum waren sie weg, stürmte ich nach oben und heulte in mein
Kissen.
Abends liefen wir uns manchmal im Le Danzing über den Weg. Man konnte nie wissen, wann Oliver aufkreuzen würde. Er erschien unvermittelt auf der Bildfläche und verschwand ebenso
plötzlich, manchmal allein, manchmal mit anderen. Wenn Chiara, die von klein auf bei uns ein und aus ging, jetzt zu uns kam, starrte sie vor sich hin und wartete praktisch nur auf ihn. Dann,
wenn die Minuten verstrichen, ohne dass wir uns Wesentliches zu sagen hatten, fragte sie: » C’è Oliver ?« Er ist bei der Übersetzerin.
Oder: Er ist mit meinem Vater in der Bibliothek. Oder: Er ist unten am Strand. »Ja, dann gehe ich jetzt. Sag ihm, dass ich da war.«
Aus der Traum, dachte ich.
Mafalda schüttelte teilnahmsvoll tadelnd den Kopf. »Sie ist ein Baby, er ist Universitätsprofessor. Konnte sie sich nicht einen in ihrem Alter suchen?«
»Dich hat keiner gefragt«, giftete Chiara, die Mafaldas Bemerkung gehört hatte und nicht bereit war, sich von einer Köchin kritisieren zu lassen.
»Untersteh dich, so mit mir zu reden, sonst gibt’s was hinter die Ohren«, sagte unser neapolitanischer Küchendragoner und hob drohend die Handfläche. »Noch
nicht siebzehn, und macht sich barbusig an die Männer ran. Denkst du, ich bin blind?«
Ich sah Mafalda vor mir, wie sie morgens Olivers Bettwäsche inspizierte. Oder wie sie und Chiaras Hausmädchen die Köpfe zusammensteckten. Vor diesen gut informierten perpetue, den Haushälterinnen, war kein Geheimnis sicher.
Ich sah Chiara an. Ich wusste, dass sie litt.
Alle argwöhnten, dass zwischen den beiden etwas lief. Nachmittags verkündete er ab und zu, er würde sich mal eben aus dem Schuppen neben der Garage ein Fahrrad holen, um in die
Stadt zu fahren. Nach anderthalb Stunden war er wieder da. Die Übersetzerin, erklärte er.
»Die Übersetzerin«, wiederholte mein Vater, gedankenvoll sein Digestivo-Glas streichelnd.
» Traduttrice? Von wegen«, höhnte Mafalda.
Manchmal kreuzten sich unsere Wege in der Stadt.
Ich saß in dem caffè , in dem sich einige aus unserer Clique abends nach dem Kino oder vor der Disco trafen, als ich Chiara
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