Ruf mich bei Deinem Namen
nicht kratzt. Mehr schaffe ich nicht.«
»Das wissen wir jetzt schon eine ganze Weile«, fuhr er mich an.
Ich war am Boden zerstört. Jedes Mal, wenn ich mir eingebildet hatte, ihn zu kränken, indem ich ihm zeigte, wie leicht es war, ihn im Garten, auf dem Balkon, am Strand zu ignorieren,
hatte er mich durchschaut und meinen Zug als Lehrbuchlösung eines Beleidigten erkannt.
Ausgerechnet sein Geständnis, das scheinbar alle Schleusen zwischen uns geöffnet hatte, ertränkte meine schüchternen Hoffnungen. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was
ließ sich noch hinzufügen? Und was würde geschehen, wenn wir wieder einmal so taten, als sprächen wir nicht mehr miteinander, aber nicht mehr sicher waren, ob die Eiszeit
zwischen uns noch Täuschung war?
Wir redeten noch eine Weile, dann versandete das Gespräch. Nachdem unsere Karten offen auf dem Tisch lagen, war es nur noch seichtestes Geplapper.
»Hierher also ist Monet zum Malen gekommen.«
»Ich zeige es dir zu Hause. Wir haben ein Buch mit wunderbaren Reproduktionen von Bildern aus der Gegend.«
»Ja, das musst du mir zeigen.«
Er spielte die Rolle des gönnerhaften Ersatzdarstellers, was mir absolut gegen den Strich ging.
Wir bewunderten, jeder auf einen Arm gestützt, die Aussicht.
»Du hast es echt gut getroffen im Leben«, sagte er.
»Was weißt denn du?«
Ich ließ ihm Zeit, über die Frage nachzudenken, aber als das Schweigen unerträglich geworden war, brach es aus mir heraus: »Dabei läuft so vieles schief.«
»Was denn? Mit deiner Familie?«
»Auch mit der.«
»Dass du den ganzen Sommer hier verbringen, allein lesen, dich mit den Langweilern herumplagen musst, die dein Vater zu jeder Mahlzeit anschleppt?« Jetzt machte er sich wieder
über mich lustig.
Ich lächelte leicht süffisant. Nein, das war es auch nicht.
Er hielt einen Augenblick inne.
»Du meinst uns.«
Ich antwortete nicht.
»Ja, dann …« Und ehe ich wusste, wie mir geschah, rückte er dicht an mich heran. Wir sind uns zu nah, dachte ich, so nah war ich ihm bisher nur im Traum gewesen oder als
er die hohlen Hände aneinandergelegt und mir die Zigarette angezündet hatte. Wäre sein Ohr mir näher gewesen, hätte er meinen Herzschlag hören können. So etwas
hatte ich schon in Romanen gelesen, aber bisher nie geglaubt. Er sah mir ins Gesicht, als gefiele ihm das, was er da sah, als wollte er es sich einprägen. Dann legte er seinen Zeigefinger auf
meine Unterlippe und ließ ihn nach links und nach rechts und von rechts wieder nach links wandern. Ich lag da, sah sein Lächeln und dachte tief erschrocken, dass nun alles möglich
war und es kein Zurück mehr gab, dass dies seine Art zu fragen war und meine Chance nein zu sagen oder irgendetwas zu reden, um Zeit zu gewinnen – aber plötzlich hatte ich
keine Zeit mehr, denn jetzt berührten seine Lippen meinen Mund, es war ein warmer, versöhnlicher, Ich-komme-dir-auf halbem-Wege-entgegen-aber-nicht-weiter-Kuss, bis er begriff, wie
ausgehungert ich war. Ich wünschte, ich hätte meinen Kuss so differenzieren können wie er. Aber in der Leidenschaft lässt sich manches verbergen, und obwohl ich versuchte, in
diesem Augenblick alles, was mich betraf, in diesem Kuss zu verbergen, bemühte ich mich gleichzeitig, alles zu vergessen und mich im Kuss zu verlieren.
»Besser?«, fragte er.
Wortlos hob ich ihm mein Gesicht entgegen und gab den Kuss zurück, fast brutal, nicht von Leidenschaft getrieben oder weil es seinem Kuss noch an dem Eifer gefehlt hätte, den ich mir
wünschte, sondern weil ich nicht sicher war, ob unser Kuss mir Klarheit über mich selbst verschafft hatte. Ich war nicht einmal sicher, ob er mir den erhofften Genuss gebracht hatte,
weshalb ich ihn noch einmal testen musste, so dass ich noch in der Handlung selbst genötigt war, den Test zu testen. Meine Gedanken verirrten sich zu den banalsten Dingen. So viel Verleugnung? hätte ein billiger Jünger Freuds bemerkt. Ich erstickte meine Zweifel in einem noch heftigeren Kuss. Ich wollte keine Leidenschaft, ich wollte
keine Lust, vielleicht wollte ich nicht einmal einen Beweis. Und ich wollte kein Gerede – kein seichtes Gerede, ernsthaftes Gerede, Fahrradgerede, Büchergerede. Die Sonne, das Gras,
hin und wieder eine Brise vom Meer und der Duft seines Körpers – das genügte mir. Nimm mich und häute mich und kehre mein Innerstes nach außen, bis ich –
wie eine Figur bei Ovid – eins mit deiner Lust werde. Verbinde mir die Augen, halte
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