Ruf mich bei Deinem Namen
das doch.«
Den Blick aufs offene Meer gerichtet, um ihn nicht ansehen zu müssen, setzte ich mich ins Gras. Er hatte sich wenige Meter von mir entfernt hingehockt, auf den Zehenspitzen wippend, als
wolle er jeden Augenblick aufspringen und zu unseren Fahrrädern zurückgehen.
Mir war gar nicht klar, dass ich ihn nicht nur hergeführt hatte, um ihm meine kleine Welt zu zeigen, sondern um meine kleine Welt zu bitten, ihn einzulassen, damit sie ihn kennenlernen und
entscheiden konnte, ob er hineinpasste, so dass ich hierher würde zurückkommen und an ihn denken können. Hierher würde ich gehen, um der bekannten Welt zu entkommen und eine
andere, von mir selbst geschaffene zu finden. Was ich ihm hier zeigte, war genau genommen meine Startrampe. Ich brauchte nur die Werke aufzuzählen, die ich hier gelesen hatte, und er
würde alle Orte kennen, zu denen ich gereist war.
»Ich mag deine Art, Dinge auszudrücken. Warum machst du dich ständig klein?«
Ich zuckte die Schultern. Kritisierte er mich dafür, dass ich mich selbst kritisierte?
»Ich weiß nicht. Vielleicht, damit du es nicht tust.«
»Fürchtest du dich so sehr vor dem, was andere von dir denken?«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich im Grunde die Antwort nicht kannte. Oder vielleicht war die Antwort so offenkundig, dass ich sie nicht auszusprechen brauchte. In solchen Momenten
fühlte ich mich besonders verletzlich, besonders nackt. Gib mir einen Schubs, mach mich nervös, und wenn ich nicht zurückschubse, hast du mich schon durchschaut. Nein, ich wusste auf
seine Frage nichts zu sagen, rührte mich nicht. Am liebsten hätte ich ihn allein heimfahren lassen, ich würde rechtzeitig zum Lunch nachkommen.
Er wartete. Und fixierte mich mit einem starren Blick.
In diesem Moment habe ich mich wohl zum ersten Mal gezwungen, ihn direkt anzusehen. Meist hatte ich ihm nur einen schnellen Blick zugeworfen und dann weggeschaut, weil ich nicht unaufgefordert
in dem schönen klaren Teich seiner Augen schwimmen mochte, hatte nie lange genug gewartet, um zu erkennen, ob ich dort willkommen war, hatte weggesehen, weil ich zu gehemmt war,
zurückzustarren, wenn er mich anstarrte. Hatte weggesehen, weil ich nichts preisgeben wollte. Hatte weggesehen, weil ich nicht zugeben mochte, wie wichtig er mir war. Weil sein kalter Blick
mich immer daran erinnerte, wie hoch er über mir stand. Jetzt, in der Stille dieses Moments, erwiderte ich seinen Blick rückhaltlos – nicht um ihn herauszufordern oder um ihm
zu zeigen, dass meine Schüchternheit verflogen war, sondern um mich ihm ganz auszuliefern, um ihm zu zeigen: Das bin ich, das bist du, das ist das, was ich will, zwischen uns ist jetzt nur
noch Wahrheit, und wo Wahrheit ist, gibt es keine Schranken, keine verstohlenen Blicke, und wenn es zu nichts führt, soll niemand sagen, dass wir nicht gewusst hätten, wohin es hätte
führen können. Ich hatte keinen Willen mehr. Vielleicht erwiderte ich seinen Blick, weil ich nichts mehr zu verlieren hatte, erwiderte ihn mit dem allwissenden
Trau-dich-mich-zu-küssen-Blick eines Menschen, der mit ein und derselben Geste angreift und flieht.
»Du machst es mir sehr schwer.«
Meinte er damit unseren Blickwechsel?
Ich gab nicht nach, er auch nicht. Ja, genau den meinte er.
Mein Herz schlug so schnell, dass ich nicht zusammenhängend sprechen konnte. Es war mir nicht einmal peinlich, dass man mir ansah, wie erhitzt ich war. Sollte er es doch merken.
»Weil es sehr unrecht wäre.«
»Wäre?«, fragte ich.
Gab es also doch noch einen Hauch von Hoffnung?
Er setzte sich ins Gras, legte sich auf den Rücken, die Arme unter dem Kopf und sah zum Himmel hoch.
»Ja, wäre . Ich will nicht so tun, als sei es mir nie in den Sinn gekommen.«
»Dann hätte ich es wohl als Letzter erfahren.«
»Jetzt weißt du es. Was glaubst du denn, was hier gelaufen ist?«
»Was gelaufen ist?« Ich versuchte mich in eine Frage zu retten. »Nichts.« Ich überlegte einen Augenblick. »Nichts«, wiederholte ich, als sei das, was
sich vage als Andeutung abzeichnete, so amorph, dass es sich durch mein wiederholtes »Nichts« würde wegschieben lassen und damit die quälenden Gesprächspausen
überbrücken könnte. »Nichts.«
»Verstehe. Aber das siehst du falsch, mein Freund«, sagte er in zurechtweisend herablassendem Ton. »Wenn dich das tröstet – ich muss mich schwer
zurückhalten. Es wird Zeit, dass auch du das lernst.«
»Ich kann allenfalls so tun, als ob mich das alles
Weitere Kostenlose Bücher