Ruf mich bei Deinem Namen
meine Hand, verlange nicht, dass ich denke – willst du das für mich tun?
Ich wusste nicht, wohin das alles führte, aber ich ergab mich ihm Zoll für Zoll, und er muss es gewusst haben, denn ich spürte, dass er noch Abstand wahrte. Obschon unsere
Gesichter sich berührten, waren unsere Körper sich fern. Ich wusste, dass alles, was ich jetzt tat, jede meiner Bewegungen, die Harmonie des Augenblicks stören konnte. Und weil ich
spürte, dass es wohl keine Weiterführung unseres Kusses geben würde, begann ich die unvermeidliche Trennung unserer Münder zu testen, merkte aber, wie sehr ich mich jetzt, da
ich so tat, als wollte ich den Kuss beenden, danach sehnte, er möge nie aufhören, wie sehr ich mich danach sehnte, seine Zunge in meinem Mund zu spüren und meine in
seinem – denn nach all diesen Wochen, nach all den Zwistigkeiten, nach all den Anläufen, die immer wieder ein kalter Luftzug zunichte gemacht hatte, waren wir nurmehr zwei Zungen,
von denen eine im Mund des anderen zappelte. Nur zwei Zungen, alles andere versank. Als ich schließlich ein Knie anwinkelte und mich ihm zuwandte, begriff ich, dass der Zauber dahin war.
»Ich denke, wir sollten jetzt gehen.«
»Noch nicht.«
»Wir dürfen das nicht. Ich kenne mich. Bisher waren wir brav. Wir haben nichts getan, wofür wir uns schämen müssten. Lassen wir es dabei. Ich möchte brav
bleiben.«
»Wozu? Mir ist es einerlei. Wer sollte es erfahren?«
Verzweifelt und voller Angst, er würde sich nicht erweichen lassen, streckte ich die Hand aus und legte sie auf seinen Schritt. Er regte sich nicht. Ich hätte ihm direkt in die Shorts
greifen sollen. Er hatte meine Absicht wohl erraten, denn ganz gelassen, mit einer sanften, aber sehr entschiedenen Bewegung, ließ er seine Hand eine Sekunde auf der meinen liegen, verflocht
seine Finger mit meinen und nahm meine Hand weg.
Einen Augenblick blieb es unerträglich still.
»Habe ich dich gekränkt?«
»Nein, aber lass das bitte.«
Es klang ein bisschen wie sein »Später« aus den ersten Wochen – beißend, ungeschminkt und freudlos, ohne einen Hauch jener Lust oder Leidenschaft, die wir
gerade erlebt hatten. Er half mir beim Aufstehen.
Plötzlich zuckte er zusammen.
Mir fiel die Schramme an seiner Hüfte ein.
»Ich muss achtgeben, dass sie sich nicht entzündet«, sagte er.
»Dann halten wir auf dem Rückweg an der Apotheke.«
Er antwortete nicht, aber der Satz wirkte wie eine kalte Dusche. Wir spürten den eisigen Hauch der wirklichen Welt. Anchise, die Fahrradreparatur, das Gezänk wegen der Tomaten, die
Notenblätter, hastig unter einem Limonadenglas gesichert – wie lange schien das alles her zu sein!
Als wir den Malplatz verließen, sahen wir zwei Touristenbusse nach Süden, in Richtung N., fahren. Es war fast Mittag.
»Wir werden nie wieder miteinander reden«, sagte ich, als wir, den Wind in den Haaren, den endlosen Hang herunterrollten.
»Sag das nicht.«
»Ich weiß es. Wir werden plaudern, plappern, schwatzen eben. Aber das Komische ist – damit kann ich leben.«
»Glückwunsch! Das war ja gereimt«, sagte er.
Ich mochte es, wenn er mich so freundschaftlich veralberte.
Zwei Stunden später, beim Lunch, zeigte sich, dass ich niemals damit würde leben können.
Vor dem Nachtisch, während Mafalda abräumte und die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf ein Gespräch über Jacopone da Todi richtete, merkte ich, wie ein warmer, nackter
Fuß fast beiläufig über meinen streifte.
An Monets Malplatz, fiel mir ein, hätte ich die Gelegenheit nutzen sollen festzustellen, ob die Haut an seiner Fußsohle so glatt war, wie ich gedacht hatte. Diese Chance war
vertan.
Vielleicht war es mein Fuß, der sich verirrt und den seinen berührt hatte? Er zog sich zurück, nicht gleich, aber ziemlich bald, als habe er bewusst eine Weile gewartet, um nicht
den Eindruck zu erwecken, er sei erschrocken zurückgezuckt. Auch ich wartete noch ein paar Sekunden, dann begann mein Fuß ohne einen bestimmten Plan nach dem seinen zu suchen.
Unvermittelt stieß mein großer Zeh an seinen Fuß, der sich ganz ruhig verhielt – wie ein Freibeuterschiff, von dem man meint, dass es die Flucht ergriffen hat und
meilenweit entfernt ist, während es in Wirklichkeit in einer nahen Nebelwand Deckung gesucht hat, bereit, bei der nächstbesten Gelegenheit zum Angriff überzugehen. Ich hatte kaum
Zeit gehabt, etwas mit meinem Fuß anzustellen, als der seine sich behutsam zu dem meinen hinbewegte und
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