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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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bemüht, die ganze Bedeutung des Satzes voll auszuloten und ihn einzuordnen. Dass er ihn wiederholt hatte,
bedeutete, dass er auf Zeit spielte. Das Eisen war rotglühend.
    »Weil ich möchte, dass du es weißt«, platzte ich heraus, »weil ich es niemandem sonst sagen kann.«
    So, jetzt war es heraus.
    Würde er mich verstehen?
    Ich war drauf und dran, von etwas anderem zu sprechen, vom Meer und dem morgigen Wetter und ob er den Segeltörn nach E., den uns mein Vater versprochen hatte wie jedes Jahr um diese Zeit,
für eine gute Idee hielt.
    Aber so billig kam ich bei ihm nicht davon – und dafür war ich ihm dankbar.
    »Ist dir klar, was du da sagst?«
    Diesmal sah ich aufs Meer hinaus und sagte in einem vagen, resignierten Ton, der mein letztes Ablenkungsmanöver, meine letzte Bastion, mein letztes Schlupfloch war: »Ja, ich
weiß, was ich sage, du hast mich nicht falsch verstanden. Ich kann mich nur nicht sehr gut ausdrücken. Aber wenn du willst, brauchst du nie wieder ein Wort mit mir zu
wechseln.«
    »Halt mal – hab ich das richtig mitbekommen?«
    »Ja.« Jetzt, nachdem ich alles ausgespuckt hatte, konnte ich den Ganoven raushängen lassen, der, nachdem er sich der Polizei gestellt hat, lässig und ein wenig ungeduldig
dem Ordnungshüter erneut schildert, wie er das Geschäft ausgeraubt hat.
    »Warte hier auf mich, ich muss nur rasch nach oben und ein paar Unterlagen holen. Geh nicht weg.«
    Ich sah vertrauensvoll lächelnd zu ihm hoch.
    »Natürlich nicht, das weißt du doch!«
    Und auch das, dachte ich, ist schon wieder ein Geständnis.
    Ich schob unsere Räder bis zu dem Ehrenmal für die Jugend der Stadt, die im Ersten Weltkrieg in der Schlacht am Piave umgekommen war. Alle italienischen Kleinstädte haben solche
Denkmäler. Gleich daneben hielten zwei Kleinbusse und ließen Fahrgäste aussteigen – ältere Frauen aus den Nachbardörfern, die in die Stadt zum Einkaufen
gekommen waren. Auf der kleinen Piazza saßen die Alten, in alten, abgetragenen graubraunen Anzügen auf gebrechlichen Korbsesseln oder auf Parkbänken. Wer von ihnen erinnerte sich
wohl noch an die jungen Männer, die sie am Piave verloren hatten? Wer sie noch gekannt hatte, musste heute mindestens achtzig sein. Und mindestens hundert oder mehr, um älter zu sein als
jene Jungen damals. Mit hundert Jahren müsste man wohl gelernt haben, Verlust und Leid zu überwinden – oder verfolgten einen diese Gefühle bis zum bitteren Ende? Wer
hundert ist, vergisst Geschwister, Söhne, geliebte Menschen, niemand erinnert sich mehr, selbst die Geschlagensten vergessen das Erinnern. Mütter und Väter sind längst tot.
Erinnert sich überhaupt noch jemand?
    Ein Gedanke traf mich voller Wucht: Würden meine Nachfahren wissen, was heute auf dieser Piazzetta gesprochen wurde? Oder sonst jemand? Oder würde sich das Gesprochene in Luft
auflösen, so wie ich es mir mit einem Teil meines Seins wünschte? Würden sie wissen, wie nahe am Abgrund ihr Schicksal an diesem Tag auf der Piazzetta gestanden hatte? Der Gedanke
belustigte mich und gab mir die nötige Distanz, mich dem zu stellen, was dieser Tag noch bringen mochte.
    In dreißig, vierzig Jahren werde ich hierher zurückkommen und an ein Gespräch zurückdenken, von dem ich wusste, dass ich es nie vergessen würde, auch wenn ich es
irgendwann vielleicht gern vergessen hätte. Ich würde mit meiner Frau zurückkommen, mit meinen Kindern, würde sie zu den Sehenswürdigkeiten führen, ihnen die Bucht
zeigen, die Cafés, Le Danzing, das Grand Hotel. Dann würde ich hier stehen und das Denkmal und die Korbsessel und die wackligen Holztische bitten, mich an einen Mann zu erinnern, der
Oliver hieß.
    Da war er wieder. »Die Milani, diese Gans, hat die Seiten durcheinandergebracht«, stieß er zornig hervor. »Jetzt muss sie alles noch mal tippen, und ich habe heute
Nachmittag nichts zu arbeiten, das wirft mich einen ganzen Tag zurück.«
    Jetzt war er es, der nach einem Anlass suchte, sich um das Thema zu drücken. Ich hätte ihm ohne Weiteres aus der Verlegenheit helfen können, wenn er gewollt hätte. Wir
konnten übers Meer sprechen, den Piave, über Aussprüche von Heraklit, wie »Die Natur liebt es, sich zu verbergen« oder »Ich machte mich auf die Suche nach mir
selbst.« Außerdem gab es da noch den Segeltörn nach E., der schon seit Tagen bei uns im Haus Thema war. Und das Kammermusikensemble, das jeden Tag eintreffen konnte.
    Wir kamen an einem Geschäft vorbei, in dem

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