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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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begann, ihn zu streicheln und sich an ihm zu reiben. Die glatte runde Ferse hielt
meinen Fuß fest, übte hin und wieder einen leichten Druck aus, um gleich darauf wieder meine Zehen zu liebkosen, und damit gab er mir zu verstehen, dass diese Späße seine Art
waren, den Mittagslangweilern, die uns direkt gegenüber saßen, den Boden unter den Füßen wegzuziehen, aber auch, dass die anderen Leute eigentlich unwichtig waren, dass es im
Grunde nur um uns ging, dass ich aber in die Situation nicht mehr hineindeuten dürfe, als sie hergab. Das Verstohlene und Hartnäckige seiner Liebkosungen ließ mich erschauern. Mir
wurde schwindlig. Nein, ich würde nicht weinen, es war keine Panikattacke, keine »Ohnmacht«, und ich würde auch nicht in meinen Shorts kommen, obgleich ich das sehr schön
gefunden hätte, besonders wenn ich die Wölbung seines Fußes auf meinem spürte. Ich sah auf meinen Dessertteller mit dem Schokoladenkuchen in Himbeersaft, und plötzlich kam
es mir vor, als gösse jemand immer mehr rote Soße nach, als käme die Soße von der Decke über meinem Kopf – bis ich merkte, dass das Rot aus meiner Nase rann.
Ich schnappte nach Luft, knüllte rasch meine Serviette zusammen, hielt sie mir an die Nase und legte den Kopf so weit wie möglich nach hinten. »Ghiaccio, Eis, Mafalda, per favore, presto«, sagte ich leise, die anderen sollten merken, dass ich die Situation im Griff hatte.
»Ich war heute Vormittag in den Bergen, passiert mir immer wieder«, sagte ich entschuldigend zu den Gästen. Ich hörte Geraschel und eilige Schritte, die das Esszimmer
verließen und wieder zurückkamen. Ich hatte die Augen geschlossen. Nimm dich zusammen, predigte ich mir, pass auf, dass dein Körper nicht alles verrät.
    »War ich schuld?«, fragte er, als er nach dem Lunch in mein Zimmer kam.
    Ich antwortete nicht direkt. »Ich sehe schlimm aus, was?«
    Er lächelte und schwieg.
    »Setz dich einen Augenblick.«
    Er setzte sich auf mein Bett, an die hinterste Ecke. Besuch bei einem Freund im Krankenhaus nach dessen Jagdunfall.
    »Hoffentlich kommt das schnell wieder in Ordnung.«
    »Ich werd’s überleben.« Diesen Satz hatte ich bis zum Überdruss in Romanen gelesen Er sprach den treulosen Liebhaber frei, ließ alle Beteiligten das Gesicht
wahren, verhalf demjenigen, dessen Tarnung aufgeflogen war, wieder zu Würde und Lebensmut.
    »Ich lass dich jetzt schlafen«, sagte er im Ton einer fürsorglichen Krankenschwester.
    Und schon auf dem Weg nach draußen: »Ich bleib in der Nähe …« – so wie man sagt: Ich lass das Licht für dich an. »Sei brav.«
    Als ich versuchte zu dösen, war plötzlich die Erinnerung an die Szene auf der Piazzetta wieder da, die mir irgendwo zwischen dem Denkmal für die Piaveschlacht und unserer Fahrt
den Hügel hoch abhanden gekommen war, auf der mich Angst und Scham und Gott weiß was bedrängt hatten, – aber so, als läge sie viele Sommer, viele Jahre zurück,
als sei ich, ein kleiner Junge, vor dem Ersten Weltkrieg zur Piazzetta geradelt und als neunzigjähriger verkrüppelter Kriegsveteran zurückgekehrt, an dieses Schlafzimmer gefesselt,
das nicht einmal mein eigenes war, denn meins hatte man einem jungen Mann gegeben, der das Licht meiner Augen war.
    Du Licht meiner Augen, sagte ich, Licht meiner Augen, Licht der Welt bist du, Licht meines Lebens. Ich wusste nicht, was Licht meiner Augen bedeutete und überlegte insgeheim, wo um Himmels
willen ich dieses Gewäsch aufgeschnappt hatte, aber so ein Unfug trieb mir jetzt doch tatsächlich Tränen in die Augen, Tränen, mit denen ich gern sein Kissen, seine Badehose
getränkt hätte, Tränen, die er mit der Zungenspitze hätte auffangen müssen.
    Warum hatte er seinen Fuß auf meinen gestellt? War es ein Annäherungsversuch oder eine gut gemeinte, freundschaftlich-solidarische Geste wie damals die Schultermassage, ein
scherzhafter Puff unter Liebenden, die nicht mehr miteinander schlafen, aber beschlossen haben, Freunde zu bleiben und hin und wieder zusammen ins Kino zu gehen?
    Sollte es heißen: Ich habe nichts vergessen, es wird immer zwischen uns stehen, auch wenn sich weiter nichts daraus ergibt?
    Ich wäre am liebsten aus dem Haus geflüchtet, ich wünschte, es wäre schon Herbst, und ich wäre weit, weit weg. Weg aus unserer Stadt mit dem albernen Le Danzing und den
albernen jungen Leuten, die kein vernünftiger Mensch zu Freunden hätte haben wollen, weg von meinen Eltern, meinen Cousins, die sich ständig

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