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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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die Arme um die Knie geschlungen, und lauschte
den Wellen, die an die Felsen schlugen. Als ich ihn jetzt von unserer Balustrade aus beobachtete, überkam mich eine große Zärtlichkeit. Ich dachte daran, wie ich nach B. gerast war,
um ihn noch vor dem Postamt abzufangen. Er war der beste Mensch, den ich kannte. Ich hatte gut gewählt. Ich machte das Törchen auf, setzte über ein paar große Steine, dann war
ich bei ihm.
    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte ich.
    »Und ich dachte, du schläfst. Oder du willst nicht.«
    »Nein. Ich hab gewartet und nur das Licht ausgemacht.«
    Ich sah zu unserem Haus hoch. Alle Fensterläden waren geschlossen. Ich beugte mich vor und küsste seinen Nacken. Küsste ihn zum ersten Mal mit Gefühl und nicht nur voller
Begierde. Er legte einen Arm um mich – für mögliche Beobachter eine harmlose Geste.
    »Was hast du gemacht?«, fragte ich.
    »Nachgedacht.«
    »Worüber?«
    »Dies und das. Die Rückreise in die Staaten. Die Seminare, die ich im Herbst halten muss. Das Buch. Dich.«
    »Mich.«
    »Mich?«, spottete er über meine Bescheidenheit.
    »Sonst niemanden?«
    »Sonst niemanden.« Pause. »Ich sitze jeden Abend hier. Stundenlang manchmal.«
    »Ganz allein?«
    Er nickte.
    »Das hab ich nicht gewusst. Ich dachte …«
    »Ich weiß.«
    Es war wie ein Geschenk. Die Ungewissheit hatte unsere ganze Beziehung überschattet.
    »Ich glaube, dass ich diese Stelle am meisten vermissen werde.« Eine nachdenkliche Pause, dann: »Ich war glücklich in B.«
    Es klang wie ein vorweggenommener Abschied.
    »Ich hab dort hinübergesehen«, fuhr er fort und zeigte auf den Horizont, »und daran gedacht, dass ich in zwei Wochen wieder an der Uni sein werde.«
    Er hatte Recht. Ich hatte die Tage bewusst nie gezählt. Zuerst, weil ich nicht darüber nachdenken wollte, wie lange er bei uns bleiben würde, dann, weil ich mir nicht eingestehen
mochte, dass uns nur noch einige wenige Tage blieben.
    »Wenn ich in zehn Tagen hierherschaue, wirst du nicht mehr da sein. Was soll ich dann machen? Du bist dann wenigstens anderswo, an einem Ort, wo es keine Erinnerungen gibt.«
    Er zog mich an sich. »Was du dir so zusammendenkst … Es wird schon alles werden.«
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir haben so viele Tage vergeudet – so viele Wochen.«
    »Wirklich vergeudet? Vielleicht hat es einfach lange gedauert herauszufinden, ob es das ist, was wir wollten.«
    »Gewisse Leute machen die Dinge ganz schön kompliziert.«
    »Du meinst mich?«
    Ich nickte. »Du weißt, was wir vor genau vierundzwanzig Stunden getan haben?«
    Er lächelte. »Ich weiß immer noch nicht recht, wie ich dazu stehe.«
    »Ich auch nicht. Aber ich bin froh, dass wir es getan haben.«
    »Alles okay bei dir?«
    »Alles okay.« Ich schob eine Hand in seine Hose. »Ich finde es wunderbar, mit dir hier zu sein.«
    Das war meine Art zu sagen; Ich war hier auch glücklich. Ich überlegte, was glücklich wohl für ihn bedeutete: Glücklich, endlich hier zu
sein, nachdem er versucht hatte, sich ein Bild von dem zu machen, was ihn hier erwartete, glücklich bei seiner Arbeit an jenen sengend heißen Vormittagen im Himmel, glücklich bei seinen Fahrten zur Übersetzerin, glücklich, sich abends in die Stadt verziehen zu können und sehr spät nach Hause zu kommen,
glücklich mit meinen Eltern und der Mittagsplage, glücklich mit seinen Pokerkumpels und den vielen Freunden, die er in der Stadt gefunden hatte und von denen ich nichts, aber auch gar
nichts wusste? Vielleicht würde er mir irgendwann davon erzählen. Wie viel galt wohl ich in diesem großen Glückspaket?
    Dabei war es durchaus denkbar, dass mich, wenn wir morgen früh schwimmen gingen, wieder dieser unheimliche Selbsthass überkam. Ob man sich daran gewöhnen konnte? Oder sammelt sich
mit der Zeit ein so großes Defizit an Missbehagen an, dass man nach Möglichkeiten sucht – und sie auch findet –, es in Bausch und Bogen zu konsolidieren, mit
entsprechenden Amnestien und Gnadenfristen? Oder wird die Anwesenheit des anderen, der einem am Vortag fast wie ein Eindringling vorkam, immer notwendiger, weil sie uns vor der eigenen Hölle
schützt, so dass eben jener, der uns bei Tagesanbruch Qualen bereitet hat, sie in der Nacht lindert?
    Am nächsten Tag gingen wir schon kurz nach sechs zum Schwimmen, und die frühe Stunde gab uns zusätzlichen Schwung. Als er sich auf den Rücken legte und
Toter Mann spielte, hätte ich ihn am liebsten so festgehalten wie es die

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