Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
Schwimmlehrer machen, ganz leicht, als ob sie einen fast nur mit den Fingerspitzen über Wasser halten. Warum kam
ich mir in jenem Moment älter vor als er? An diesem Morgen wollte ich ihn vor allem beschützen – vor den Felsen, vor den Quallen, die jetzt Hochsaison hatten, vor Anchise und
seinem unheimlichen Grinsen, mit dem er in den Garten gezockelt kam, um die Rasensprenger anzustellen, auf Schritt und Tritt Unkraut ausreißend, selbst bei Regen. Wenn er mit einem sprach,
war es da, auch wenn er wieder mal drohte, uns zu verlassen; ein Grinsen, das einem sämtliche Geheimnisse zu entlocken schien, die man vor seinem Blick verborgen glaubte.
    »Wie geht es dir?«, wollte ich wissen – ein Echo auf seine Erkundigung von gestern.
    »Da fragst du noch?«
    Beim Frühstück – ich wusste selbst nicht, was in mich gefahren war – schnitt ich von seinem weichen Ei die Spitze ab, ehe Mafalda sich ans Werk machen konnte oder
er es mit dem Löffel hatte aufklopfen können. Ich hatte das noch nie für ihn getan. Jetzt achtete ich sorgfältig darauf, dass kein Stückchen Schale ins Eigelb fiel. Als
Mafalda ihm seinen täglichen polpo brachte, freute ich mich für ihn. Häusliches Glück. Nur weil ich in der Nacht hatte oben liegen
dürfen.
    Ich merkte, dass mein Vater mich scharf ansah, als ich die Spitze von Olivers zweitem Ei abgesäbelt hatte.
    »Amerikaner wissen einfach nicht, wie man das macht«, sagte ich.
    »Vielleicht haben sie ja nur eine andere Technik«, bemerkte er.
    Lass es gut sein, signalisierte der Fuß, der sich unter dem Tisch auf meinen legte, kann sein, dass dein Vater was wittert. »Er ist nicht dumm«, sagte Oliver später zu
mir. Er war schon auf dem Sprung nach B.
    »Soll ich mitkommen?«
    »Nein, du hältst dich heute lieber zurück. Nimm dir deinen Haydn vor. Später.«
    »Später.«
    Er war schon fast draußen, als Marzia anrief. Mit einem angedeuteten Zwinkern, aber ohne jede Ironie reichte er mir den Hörer und gab mir damit zu verstehen, dass in unserer Beziehung
jene unbedingte Offenheit herrschte, die es nur unter Freunden gibt.
    Vielleicht waren wir in erster Linie Freunde und erst in zweiter ein Liebespaar.
    Aber vielleicht ist es ja genau das, was ein Liebespaar ausmacht.
    Wenn ich auf unsere letzten gemeinsamen Tage zurückschaue, sehe ich unser Schwimmen früh am Morgen, das Faulenzerfrühstück, die Fahrradtour in die Stadt,
das Arbeiten im Garten, Lunch, Mittagsruhe, nachmittags wieder Arbeit, vielleicht Tennis, abendliches Schlendern auf der Piazzetta und Nacht für Nacht die Liebe, die jegliches Zeitgefühl
vergessen lässt.
    Wenn ich auf jene Tage zurückschaue, gab es, soweit ich mich erinnere, keine Minute – abgesehen von der halben Stunde bei seiner Übersetzerin oder ein paar
Stunden mit Marzia, die ich mir hin und wieder stehlen konnte –, in der wir nicht zusammen waren.
    »Wann wusstest du über mich Bescheid?«, fragte ich ihn einmal, und hoffte, er würde sagen Als ich deine Schulter gedrückt habe und du beinah in
meinen Armen ohnmächtig geworden wärst. Oder A n dem Nachmittag, als wir uns in deinem Zimmer unterhalten haben und deine Badehose nass war. Irgendwas in dieser Richtung. »Als du rot geworden bist«, sagte er. »Ich?« Wir hatten über das Übersetzen von Gedichten gesprochen, frühmorgens in seiner
ersten Woche bei uns. Wir hatten uns zeitiger als gewöhnlich an die Arbeit gesetzt, noch während unter der Linde der Frühstückstisch gedeckt wurde, weil wir da schon Gefallen an
unseren spontanen Gesprächen gefunden hatten. Er hatte mich gefragt, ob ich schon mal Gedichte übersetzt hätte. Ich stellte die Gegenfrage: Du auch? Ja. Er sei gerade dabei, Leopardi
zu lesen, und sei auf Verse gestoßen, die unübersetzbar seien. Wir redeten und merkten beide nicht, wie weit ein aufs Geratewohl begonnenes Gespräch einen führen kann. Denn
während wir immer tiefer in Leopardis Welt eintauchten, fanden wir immer wieder auch Nebenwege, auf denen unser natürlicher Sinn für das Komische und unser Hang zum Nonsens sich
austoben konnten. Wir übersetzten die Passage ins Englische, dann vom Englischen ins Altgriechische, dann zurück in ein verkauderwelschtes Englisch und ein verkauderwelschtes Italienisch.
Leopardis Schlusszeilen von Alla Luna waren so schräg, dass es uns schüttelte vor Lachen, wenn wir die Nonsenszeilen auf Italienisch
wiederholten – dann gab es plötzlich eine Pause, und als ich zu ihm aufblickte, sah er mich

Weitere Kostenlose Bücher