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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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wenn man sie nicht ein Leben lang vor sich hatte. Dann schien es, als lägen die Felder des Tals, die
wellenförmig in die Hügel hineinführten, in einem olivgrün aufsteigenden Nebeldunst: Sonnenblumen, Weinstöcke, Lavendelfelder und die anspruchslosen, unter setzten
Ölbäume, die wie alte, verhutzelte Vogelscheuchen durch unser Fenster spähten, wenn wir nackt auf meinem Bett lagen, nach Schweiß riechend – nach seinem, der auch
der meine war –, und um uns herum der Kamillenduft von Mafaldas Waschmittel, der Duft der trägen Nachmittagswelt unseres Hauses.
    Wenn ich auf jene Tage zurückschaue, bereue ich nichts, nicht die Gefahren, nicht die Scham, nicht den völligen Mangel an Weitblick. Das Strahlen der Sonne, die üppigen Felder mit
den hohen Halmen, die in der intensiven Nachmittagshitze nickten, das Knarren der Holzböden oder das Schurren des Steinzeugaschenbechers über die Marmorplatte meines Waschtischs. Ich
wusste, dass die gemeinsamen Minuten gezählt waren, aber ich traute mich nicht, sie zu zählen, so wie ich auch wusste, wohin der Weg führte, es aber nicht wagte, die Meilensteine
abzulesen. Damals verzichtete ich bewusst darauf, Brosamen für den Rückweg zu streuen. Ich aß sie lieber. Er konnte sich als totaler Fiesling entpuppen; er konnte mich für
immer verändern oder vernichten; die Zeitläufte und das Gerede der Welt konnten alles, was uns verband, ausweiden, bis nur noch Gräten blieben. Möglich, dass ich mich irgendwann
nach diesen Tagen sehnen würde, möglich auch, dass sie hinter Besserem zurücktreten würden – fest stand nur, dass mir niemand jene Nachmittage in meinem Zimmer
wegnehmen konnte.
    Dann aber wachte ich eines Morgens auf, düstere Wolken rasten über den Himmel: Der Herbst stand vor der Tür.
    Nach wenigen Stunden hatten sich die Wolken verzogen und das Wetter löschte, als wollte es seinen kleinen Streich wiedergutmachen, jeden Hauch von Herbst aus unserem Leben und schenkte uns
einen der angenehmsten Tage des Sommers. Aber ich hatte mir die Warnung zu Herzen genommen, die ich wohl vernommen hatte – wie der Geschworene eine Aussage, die, weil unzulässig,
sogleich wieder aus dem Protokoll gestrichen wurde. Ich erkannte plötzlich, dass wir von geliehener Zeit lebten und dass das Leihhaus die Zahlung immer dann einfordert, wenn wir am wenigsten
zahlungskräftig sind und weitere Schulden machen müssen. Plötzlich fing ich an, im Geist Schnappschüsse von ihm aufzunehmen, hob die Brotkrümel auf, die von unserem Tisch
fielen, brachte sie in mein Versteck und legte – zu meiner Schande muss ich es gestehen – Listen an: Der Fels, der Malplatz, das Bett, das Geräusch des Aschenbechers.
Fels, Malplatz, Bett … Ich hätte es gern gemacht wie die Soldaten in den Kinofilmen, denen die Munition ausgegangen ist und die ihre Flinten wegwerfen, als hätten sie nie wieder
Verwendung für sie, oder wie die Flüchtigen in der Wüste, die, statt sich den Inhalt ihrer Wasserflasche einzuteilen, dem Durst nachgeben, alles auf einmal in sich
hineinschütten und die Flasche am Wegesrand liegen lassen. Statt dessen hamsterte ich allerlei Kleinigkeiten, die mich, aus der Vergangenheit nachglimmend, in den kommenden mageren Tagen
wärmen sollten. Zögernd bestahl ich die Gegenwart, um Schulden abzuzahlen, die ich in der Zukunft machen würde. Ich wusste, dass das nicht weniger kriminell war, als an sonnigen
Nachmittagen die Fensterläden zu schließen. Ich wusste aber auch, dass in Mafaldas abergläubischer Welt das Vorausdenken des Schlimmsten als eine sichere Möglichkeit galt zu
verhindern, dass es zum Schlimmsten kam.
    Als er bei einem Abendspaziergang anfing, von der bevorstehenden Heimreise zu sprechen, wurde mir klar, wie zwecklos mein sogenannter Weitblick gewesen war. Bomben treffen nie das gleiche Ziel.
Diese traf ungeachtet meines Vorausdenkens genau mein Versteck.
    Olivers Rückflug war für die zweite Augustwoche vorgesehen. Anfang des Monats sagte er, dass er drei Tage nach Rom fahren werde, um mit seinem italienischen Verleger
an der Endfassung seines Manuskripts zu arbeiten. Von dort werde er direkt nach Hause reisen. Ob ich Lust habe, mit nach Rom zu kommen, wollte er wissen.
    Ja, natürlich, sagte ich. Müsste ich nicht erst meine Eltern fragen? Nicht nötig, die sagen nie nein. Ja, aber würden sie nicht … Nein, würden sie nicht. Als
meine Mutter hörte, dass Oliver früher als geplant abreisen und ein paar Tage in Rom

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