Ruf mich bei Deinem Namen
hätte es ihn auch gar nicht
weiter interessiert.
Abends ging ich mit Marzia ins Kino. Wir aßen Eis auf der Piazzetta. Und noch einmal bei ihr zu Hause.
»Ich möchte wieder in die Buchhandlung«, sagte sie, als sie mich zu ihrem Gartentor begleitete. »Aber nicht wieder mit dir ins Kino.«
»Wir könnten morgen kurz vor Geschäftsschluss hin.« »Warum nicht?« Sie wollte den Abend von neulich wiederholen.
Sie küsste mich. Ich aber nahm mir vor, gleich morgens in die Buchhandlung zu gehen und mir einen zweiten Besuch am gleichen Abend offen zu lassen …
Als ich nach Hause kam, waren die Gäste im Aufbruch. Oliver war nicht da.
Geschieht mir recht, dachte ich.
Ich ging auf mein Zimmer und blätterte müßig in meinem Tagebuch.
Da war der Eintrag von gestern Abend: » ›Wir sehen uns um Mitternacht‹ … Pass auf, er kommt nicht. ›Werd endlich
erwachsen!‹ Im Klartext heißt das doch: Verpiss dich! Hätte ich doch bloß nichts gesagt!«
Ich suchte in dem nervösen Gekritzel, mit dem ich den Eintrag umkränzt hatte, die Erinnerung an die Ängste der vergangenen Nacht. Vielleicht wollte ich sie noch einmal durchleben,
um die heutigen zu überdecken und auch, um mir in Erinnerung zu rufen, dass meine schlimmsten Befürchtungen schlagartig verflogen waren, als ich sein Zimmer betreten hatte und dass sich
vielleicht auch heute alle Ängste legen würden, wenn ich seine Schritte hörte.
Aber die Erinnerung an die Ängste der vergangenen Nacht war gar nicht mehr da, sie war überlagert von dem, was danach geschehen war, schien in einem Zeitsegment zu stecken, zu dem ich
keinen Zugang hatte. Ich flüsterte »Verpiss dich!«, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, aber das, was mich letzte Nacht so getroffen hatte, war jetzt nur noch
eine Addition zweier Worte, die sich mühte, einen Sinn zu ergeben.
Was ich heute Abend empfand, war anders – schlimmer! – als alles, was ich je erlebt hatte.
Ich wusste nicht einmal, wie ich es benennen sollte.
Aber wenn ich es mir recht überlegte, wusste ich auch nicht, wie ich die Ängste der letzten Nacht hätte nennen sollen.
Ich hatte einen Riesenschritt getan. Trotzdem war ich dadurch nicht klüger geworden, war meiner Sache nicht sicherer als zuvor. Es war, als hätten wir nie miteinander geschlafen.
Zumindest war da letzte Nacht die Angst vor dem Scheitern gewesen, die Angst, aus dem Zimmer geschickt oder mit eben jenem Namen belegt zu werden, den ich schon für andere benutzt hatte.
Nachdem ich diese Angst überwunden hatte, musste ich mich fragen, ob die Unruhe schon immer da gewesen war, wenn auch latent, wie ein Vorbote, wie eine Warnung vor mörderischen Klippen
hinter der Sturmbö.
Und warum beunruhigte mich die Frage, wo er jetzt steckte? Wie war das noch mit Bäcker und Metzger? Warum war ich so verunsichert, weil er weggegangen war oder sich mir vielleicht entzogen
hatte, warum war der Rest des Tages jetzt nur noch ein einziges Warten auf ihn?
Ein Warten, das allmählich zur Qual wurde.
Wenn du mit jemandem zusammen warst, Oliver, ist es jetzt Zeit, nach Hause zu kommen. Ich frage auch nichts, versprochen, nur spann mich nicht mehr auf die Folter.
Wenn er in zehn Minuten nicht da ist, muss etwas geschehen.
Nach zehn Minuten nahm ich mir vor – hilflos und voller Selbsthass –, noch einmal zehn Minuten zuzugeben.
Zwanzig Minuten danach hielt ich es nicht mehr aus. Ich zog einen Pullover an und ging über den Balkon nach unten. Ich würde, wenn es sein musste, nach B. fahren und selbst nachsehen.
Ich war auf dem Weg zum Fahrradschuppen, überlegte schon, ob ich erst nach N. fahren sollte, wo die Leute viel länger aufblieben und Party machten als in B., und hätte mich ohrfeigen
können, weil ich heute Vormittag die Reifen nicht aufgepumpt hatte, als plötzlich etwas mich zwang, stocksteif stehen zu bleiben, um Anchise nicht zu wecken, der in dem Schuppen nebenan
schlief. Der unheimliche Anchise – alle sagten, dass er unheimlich war. Hatte ich das nicht schon immer geahnt? Der Sturz vom Fahrrad, Anchises Bauernsalbe, die Güte, mit der er
sich seiner angenommen und die Schrammen gesäubert hatte …
Aber dann entdeckte ich ihn unten an den Klippen, im Mondlicht. Er saß auf einem der höhergelegenen Felsen, in dem weißblau gestreiften Seemannspullover, den er sich Anfang des
Sommers auf Sizilien zugelegt hatte. Er war an den Schultern zu knöpfen, und Oliver ließ immer eine Seite offen. Er saß tatenlos da,
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