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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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du bist. Darf ich
kosten?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Er tauchte einen Finger in das Pfirsichinnere und steckte ihn in den Mund.
    »Bitte nicht.« Es war mehr, als ich ertragen konnte.
    »Mein eigenes konnte ich nie ausstehen. Aber das ist deins. Erklär dich bitte!«
    »Es ist mir furchtbar peinlich …«
    Er zuckte nur die Achseln.
    »Du musst das nicht machen. Schließlich war ich hinter dir her, ich bin dir nachgelaufen. Du musst das nicht machen.«
    »Unsinn! Ich habe dich von Anfang an haben wollen, ich habe es nur besser getarnt.«
    »Ach was …«
    Ich wollte ihm den Pfirsich wegnehmen, aber er packte mit der anderen Hand mein Handgelenk und drückte zu, wie im Film, wenn einer den anderen zwingt, ein Messer loszulassen.
    »Du tust mir weh.«
    »Dann lass los.«
    Er steckte sich den Pfirsich in den Mund.
    »Spuck’s ruhig aus, ich nehm’s dir nicht übel«, sagte ich – eigentlich mehr, um das Schweigen zu brechen.
    Er schüttelte den Kopf. Ich merkte, dass er es in diesem Augenblick schmeckte. Etwas, was zu mir gehörte, war in seinem Mund, war jetzt mehr sein als mein. Keine Ahnung
wieso – aber plötzlich kamen mir die Tränen. Und statt dagegen anzukämpfen, wie vorhin bei meinem Orgasmus, ließ ich einfach alles gehen, wie es wollte, und sei es
nur, um ihm auch von mir etwas sehr Persönliches zu zeigen. Ich erstickte meine Schluchzer an seiner Schulter. Ich weinte, weil noch nie ein Fremder so weit für mich gegangen war, nicht
einmal Anchise, als er meinen Fuß aufgeschnitten, das Gift eines Skorpions ausgesaugt und ausgespuckt hatte. Ich weinte, weil ich noch nie so viel Dankbarkeit gespürt und keine andere
Möglichkeit hatte, sie zu zeigen. Ich weinte, weil ich heute früh schlecht von ihm gedacht hatte und auch in der vergangenen Nacht, denn die würde ich mit all ihrem Schönen und
all ihrem Schlimmen nie ungeschehen machen können, und ich wollte ihn wissen lassen, dass er Recht hatte, dass das alles nicht einfach war, dass Jux und Tollerei gern einmal aus dem Ruder
liefen und dass es, wenn wir übereilt gehandelt hatten, jetzt zu spät zur Umkehr war. Ich weinte, weil etwas geschah und ich nicht wusste, was.
    »Einerlei, wie es zwischen uns weitergeht, Elio – ich möchte, dass du Bescheid weißt. Sag nie, du hättest es nicht gewusst.« Er kaute noch. In der Hitze
der Leidenschaft wäre das vielleicht nichts Besonderes gewesen, aber das hier war anders. Er nahm mich mit auf die Reise.
    Seine Worte machten keinen Sinn. Aber ich wusste genau, was sie bedeuteten.
    Ich rieb mit der Handfläche über sein Gesicht, leckte ihm die Lider.
    »Küss mich« sagte ich. Sein Mund würde nach Pfirsich schmecken – und nach mir.
    Nachdem Oliver gegangen war, blieb ich noch lange in meinem Zimmer. Als ich aufwachte, war es fast Abend, und ich war schlechter Laune. Es tat nicht mehr weh, aber das Missbehagen von heute
früh stellte sich wieder ein, das heißt, ich hätte nicht sagen können, ob es dieselbe Empfindung war oder etwas ganz Neues, was aus der Liebe am Nachmittag erwachsen war.
Würden mich nach einem beglückenden Zusammensein mit ihm nun immer solch einsame Gewissensbisse plagen? Und warum war das nach der Liebe mit Marzia nicht genau so? Wollte mir die Natur zu
verstehen geben, dass ich eigentlich besser bei ihr wäre?
    Ich duschte und zog saubere Sachen an. Unten war Cocktailzeit. Die beiden Gäste von gestern Abend waren wieder da, meine Mutter kümmerte sich um sie, während ein Neuer, wieder mal
ein Reporter, sich brav anhörte, wie Oliver über sein Heraklit-Buch dozierte. Er beherrschte inzwischen die Kunst, einem Fremden eine Zusammenfassung in fünf Sätzen so zu
präsentieren, als habe er sie spontan für eben diesen Zuhörer erdacht. »Bleibst du?«, fragte meine Mutter.
    »Nein, ich will zu Marzia.«
    Meine Mutter sah mich besorgt an und schüttelte diskret den Kopf. Ist mir gar nicht recht, sollte das heißen, sie ist ein
anständiges Mädchen, ihr solltet als Gruppe ausgehen. »Lass ihn in Ruhe«, widersprach mein Vater und gab mir damit grünes Licht. »Er hockt sonst doch nur
den ganzen Tag im Haus. Er soll tun, was ihm Spaß macht.«
    Wenn er wüsste …
    Und wenn er wusste?
    Mein Vater würde nie ernsthaft Einwände erheben. Er würde das Gesicht verziehen und sich sofort dafür entschuldigen.
    Ich dachte gar nicht daran, Oliver zu verheimlichen, was ich mit Marzia machte. Bäcker und Metzger machen sich keine Konkurrenz, sagte ich mir. Vermutlich

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